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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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zugefroren, der Steinrand von Pulverschnee überstäubt. Wie die Kinder, dachte Malek. Wie Kinder, die auf die Bescherung warten. Diese Idioten glauben wirklich alles, was man ihnen vorsetzt. Mundus vult decipi. Ich habe es ja selber erlebt. Wie lange ist das jetzt her: dreißig Jahre? Vielleicht dreißig oder auch vierzig Jahre. Unglaublich, 40 Jahre renne ich jetzt schon als »André Malek« durch die Gegend. Ach, wie gut, dass niemand weiß. Das Reihenhaus in Wiesbaden. Rasensprenger und Glasziegel. Mutti (Mathematiklehrerin) kommt von der Schule nach Hause; Vati darf nicht gestört werden, denn er schreibt seine Doktorarbeit. Langweilig. Laaaangweilig! Die Axt. Die Kühltruhe. Die Heime.
    Später die einzigen Jugendfreunde: Marx und Nietzsche. Natürlich hatte er die Zitate immer noch griffbereitim Gedächtnis. »Der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, worin der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« Grandios! Andererseits aber auch: »Die Schwachen und Missratnen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.« Das Heil wird erst kommen, wenn Nietzsche seinen Marx und Marx den Nietzsche gelesen hat, dachte Malek. Bis dahin: alles langweilig.
    Oh, dass ich große Laster säh,
Verbrechen, blutig, kolossal –
Nur diese satte Tugend nicht
Und zahlungsfähige Moral.
    Der Philosoph schlenderte an dem Monument im Stadtpark vorbei, das Alice im Wunderland zeigte, wie sie auf einem Riesenpilz aus Bronze saß: ihr zu Füßen der Märzhase und der verrückte Hutmacher. Wer dachte sich denn so etwas aus? Charles Lutwidge Dodgson, das pädophile Schwein. Aber dieser junge russische Baron – Alexander? Alexej? – war doch ein süßer Fratz. Das Süßeste an ihm: dass er selber nichts davon ahnte. So erotisch, so unschuldig! Leider war aber auch jener Russe ein Idiot. Korrumpiert, dumm, affirmativ. So sind die jungen Leute eben heutzutage. Aber was für ein Hintern! Wie lautete das Wort noch einmal? Richtig, derrière. Ravissant, lascif, salace. Er musste an seinem Französisch arbeiten. Ach, wie gut, dass niemand weiß. Sprach Jakob Apfelböck im milden Licht. Wie gut, dass die Welt aus Idioten bestand; es war so leicht, sie hereinzulegen. Auf der anderen Seite: wie schlecht, dass die Welt aus Idioten bestand. Nietzsche: »Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leidenheißt eine verunglückte Wirklichkeit sein.« Malek stapfte durch den Schnee zwischen den Gehwegen. Vielleicht ist das hier alles ein Traum, dachte er. Das kann doch gar nicht wahr sein. Wir sind durch das Kaninchenloch aus der Realität herausgefallen, jetzt bilden wir uns ein, wir lebten noch in der Kaiserzeit. Die Wahrheit ist vermutlich: Ich träume diese Scheiße nur. Malek im Wunderland. Sonne, Mond und Sterne, alles von mir. Stadtpark, Eis und Schnee, alles von mir. Der Itzig mit den Schläfenlocken, der gerade hier vorbeimarschiert: von mir. Franz Joseph II . in seiner Hofburg: von mir.
    Nur den Kometen, den habe ich nicht geträumt. Den habe ich mir nicht träumen lassen. Der Komet ist real – weil er nämlich den Köpfen der Herrschenden entsprungen ist. Es ist alles so langweilig!
    Für den Nachmittag wurde von Malek erwartet, dass er – obwohl doch Neujahrstag war – ein Privatseminar für eine Gruppe handverlesener Studenten abhielt. Es sollte um sein Lieblingskapitel in Hegels »Phänomenologie des Geistes« gehen: das Kapitel über Herr und Knecht. Selbstverständlich beherrschte er den Stoff aus dem Effeff. Der Anfang der Geschichte nach Auskunft von G. W. F. Hegel: ein Zweikampf um Anerkennung – ein Kampf auf Leben und Tod. Einer gewinnt, einer bleibt als Leiche auf dem Duellplatz zurück. Ziel verfehlt. Denn jetzt ist leider keiner mehr da, der den anderen anerkennen könnte. Nächste Stufe des Zweikampfes darum: Einer von beiden unterwirft sich. Er wird zum Sklaven, zum Geherda, zum Knecht. Wer ist also der Herr? Derjenige, der den Tod weniger fürchtet. Der ihn verachtet. Der ihm lachend ins Gesicht blickt. Das ist die Qualifikation, das Fundament, die Voraussetzung. Und nach dieser Definition – Malek schnaufte wütend – waren die Habsburgereben gerade keine Herren, sondern das Gegenteil. Was für ein schlechter Witz: ein Kaisergeschlecht, das sich aus geborenen Knechten zusammensetzt. Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube!
Hinweis
Nicht

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