Der Kommandant und das Mädchen
Gelegenheit bekommen, mich im Arbeitszimmer des Kommandanten umzusehen? Unser Treffen am Samstagabend war spontan erfolgt, und wir haben uns bislang auf kein weiteres Rendezvous geeinigt. Während ich mich meiner Arbeit widme, überlege ich fieberhaft, wie ich wieder in seine Wohnung gelange.
Der Kommandant nimmt den ganzen Tag über an Besprechungen teil, und ich sehe ihn erst um kurz vor fünf, als er mich in sein Büro ruft. “Hier”, sagt er in geschäftsmäßigem Ton und überreicht mir einen großen Stapel Akten und Papiere, ohne mich dabei anzusehen. Ihm ist nichts von den intimen Stunden anzumerken, die wir miteinander verbracht haben. Einen Moment lang fürchte ich, er könnte von meiner wahren Identität erfahren haben oder zumindest etwas ahnen. Aber dann denke ich an den liebevollen Ausdruck in seinen Augen, als ich in seinem Bett lag. Ich weiß, so schnell wird sich daran nichts ändern können. Vermutlich ist er nur zu sehr in seine Arbeit vertieft.
Während er sich weiter seinen Papieren widmet, warte ich neben dem Schreibtisch und hoffe, dass er gleich seine nächste Einladung ausspricht. “Das wäre dann alles”, murmelt er nur, als hätte er vergessen, dass ich neben ihm stehe.
Er will mich nicht wieder einladen, erkenne ich mit Schrecken. Zwar gehe ich zur Tür, doch dann bleibe ich stehen. Mir bleibt kaum noch Zeit, also muss ich den ersten Schritt wagen. Ich drehe mich zum Schreibtisch um und setze zaghaft an: “Herr Kommandant …”
Er sieht auf. “Ja, Anna, was gibt es?” Seine Stimme klingt freundlich, aber ich nehme einen ungeduldigen Unterton wahr.
“Wegen vorletzter Nacht …” Ich komme näher und werde noch etwas leiser.
“Ja?” Er macht einen überraschten Eindruck. Im Büro haben wir nur selten unsere Affäre zum Thema gemacht, und von mir aus habe ich sie bislang noch nie angesprochen. Ich frage mich, ob er misstrauisch wird, wenn ich zu viel sage.
Ich entschließe mich, weiterzureden. “Das war eine sehr schöne Nacht”, bringe ich heraus.
“Da kann ich nur zustimmen”, entgegnet er lächelnd. “Ich bin sehr froh, dass du dich endlich zum Bleiben durchringen konntest.” Er berührt meinen Unterarm, was sich wie ein Stromschlag durch meinen Körper fortsetzt.
“Ich weiß, es ist vielleicht etwas kühn von mir”, rede ich weiter. “Aber das Orchester spielt heute Abend ein gutes Programm, und da hatte ich überlegt …” Ich lasse den Satz unvollendet und senke den Blick.
“Ich würde liebend gern mit dir ins Konzert gehen, Anna”, erklärt er mit ernster Miene. “Ich fühle mich geschmeichelt, dass du mich fragst. Aber heute muss ich zu einem offiziellen Abendessen, und morgen früh stehen den ganzen Tag Besprechungen in Warszawa an. Vielleicht am Wochenende?”
“Ja, natürlich.” Ich bemühe mich, in ruhigem Tonfall zu sprechen. Wie dumm von mir, nicht erst einen Blick auf seine Termine zu werfen. “Das verstehe ich.”
“Aber ich werde die ganze Zeit an dich denken”, verspricht er mir und hebt meine Hand an seine Lippen. Mit einem Kopfnicken trage ich den Aktenstapel ins Vorzimmer.
Als ich mich am Abend auf den Heimweg mache, überschlagen sich meine Gedanken. Mein Versuch, in die Wohnung des Kommandanten zu gelangen, ist fehlgeschlagen. Bin ich zu forsch gewesen? Ahnte er etwas? Nein, er schien ehrlich erfreut, dass ich ihn gefragt habe. Etwas anderes macht mir indes zu schaffen: ein Gefühl der Zurückweisung. Es überrascht mich, wie sehr es mich verletzt, dass der Kommandant meine Einladung nicht angenommen hat. Sei doch nicht albern, ermahne ich mich. Ihn von mir aus anzusprechen, gehörte lediglich zu meiner Mission. Aber auch wenn ich mir das vor Augen halte, verwirren mich meine Gefühle. Es ist das Gleiche wie mit der Baronin, die mich eifersüchtig werden ließ. Warum reagiere ich nur so auf ihn? Ich muss meine Empfindungen aus dem Spiel lassen. Außerdem hatte er einen guten Grund für seine Weigerung: das Abendessen und die Reise nach Warszawa.
Plötzlich stutze ich. Der Kommandant ist morgen den ganzen Tag in Warszawa. Er ist den ganzen Tag über nicht in der Stadt! Vielleicht kann ich mir in dieser Zeit Zutritt zu seiner Wohnung verschaffen und mich in Ruhe umsehen. Das wäre die ideale Gelegenheit, auch wenn ich einen guten Vorwand benötige, warum ich die Wohnung betreten muss. Ich könnte wieder vorgeben, dass ich Papiere vorbeibringen will, so wie ich es beim ersten Mal getan habe. Doch dazu gibt es keine Notwendigkeit,
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