Der Kommandant und das Mädchen
durch den Kopf, gibt es in einer Schublade ein Geheimfach. Schließlich muss ich mich jedoch meiner Müdigkeit geschlagen geben und sinke in einen unruhigen Schlaf. Ich träume, dass ich mit Łukasz in einem Park unterwegs bin. Wir spielen Verstecken, und Łukasz läuft hinter einen Busch. Plötzlich steht ein schmächtiger Mann mit schwarzem Hut und Mantel neben mir. Es ist der Rabbi. “Wo ist mein Sohn?”, will er wissen. “Er ist weg”, lüge ich ihn an. “Weg, weg, weg …”, hallen meine Worte zwischen den Bäumen wider.
Ich schlage abrupt die Augen auf. Neben mir liegt der Kommandant, er hat sich auf die Seite gedreht und schnarcht. Obwohl es wegen der zugezogenen schweren Vorhänge im Zimmer dunkel ist, kann ich die Uhr auf seinem Nachttisch erkennen. Viertel nach fünf. Der Kommandant ist Frühaufsteher, also bleibt mir nicht mehr viel Zeit. Ich stehe auf und schleiche durch das Wohnzimmer. Die Tür zum Arbeitszimmer knarrt laut, als ich sie öffne. Wie erstarrt bleibe ich stehen und lausche, ob Geräusche aus dem Schlafzimmer zu hören sind. Es ist aber alles unverändert ruhig in der Wohnung, also betrete ich das Arbeitszimmer und schließe die Tür hinter mir. Ich ziehe die Vorhänge einen Spalt auf, damit ein schmaler Streifen schwaches Morgenlicht in den Raum fallen kann.
Ich sehe mich auf dem Schreibtisch um, kann jedoch nichts Bedeutsames entdecken. Vorsichtig ziehe ich die oberste Schublade auf und taste die Bodenplatte unter den Papieren ab, doch da ist kein Hinweis auf ein Geheimfach. Ich schließe die Schublade, knie mich hin und ziehe die nächste auf. Diesmal kann ich einen Spalt im Holz fühlen, ich hebe die Papiere hoch und sehe, dass die Schublade einen doppelten Boden hat. Mit den Fingernägeln versuche ich, die Verkleidung anzuheben …
“Anna?”, höre ich in diesem Moment den Kommandanten rufen. Ich mache unwillkürlich einen Satz und versuche, die Schublade zu schließen, doch sie klemmt. Aufgeregt versuche ich es noch einmal, nun mit mehr Druck. Endlich gibt sie nach, knallt aber lautstark zu. Ich verziehe entsetzt das Gesicht über so viel Lärm und gehe zur Tür. Ich versuche, mich an den Klang seiner Stimme zu erinnern, um in etwa einzuschätzen, wo er sich befindet. Hoffentlich liegt er noch im Bett! Ich öffne die Tür einen Spalt und spähe durch die Ritze, kann aber im dunklen Wohnzimmer nichts erkennen. Gerade will ich die Tür aufziehen, da sehe ich, dass der Kommandant sich genau davor befindet.
Er darf mich nicht in seinem Arbeitszimmer erwischen! Mir fällt eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite auf. Eilig laufe ich hin und öffne sie. Wie erhofft führt sie in die Küche. Dort nehme ich ein Glas aus dem Schrank.
“Anna”, ruft er wieder, diesmal klingt er näher. Mein Puls rast wie wild. Ich komme ihm aus der Küche entgegen und halte das Glas in der Hand. “Ja, Georg?”, bringe ich heraus, während ich mich bemühe, ruhig zu wirken.
“Oh, da bist du ja.” Seine Stimme ist rau, sein Gesicht verrät, wie verschlafen er noch ist. “Ich dachte schon, du wärst doch nach Hause gegangen …”
Er wollte mir nicht nachspionieren, sondern sich nur davon überzeugen, dass ich noch da bin. Ein Teil von mir ist gerührt. “Nein, natürlich nicht”, erwidere ich sanft. “Ich sagte doch, ich bleibe bis zum Morgen. Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen. Leg dich ruhig wieder hin, dann bringe ich dir auch eins.” Als er zustimmend nickt, hat er durch seine Schläfrigkeit fast etwas Kindliches an sich.
Während er sich auf den Weg zurück ins Bett macht, sehe ich noch einmal zum Arbeitszimmer. Ich muss dorthin zurück, was natürlich im Moment gar nicht zur Debatte steht. Das wäre jetzt viel zu gefährlich. Außerdem kann es sein, dass in dem Geheimfach gar nichts versteckt ist. Oder es handelt sich um Papiere, die nicht das Schicksal der Juden betreffen. Dennoch … mein Herz beginnt zu rasen, als ich daran denke, wie ich das Fach ertastet habe. Mein Gefühl sagt mir, dass ich dort womöglich genau das finde, wonach Alek und die anderen suchen. Ich zwinge mich zur Ruhe und atme normal, als ich mit den Wassergläsern ins Schlafzimmer gehe.
Der Kommandant liegt auf dem Bauch, einen Arm hat er über mein Kissen gelegt. “Mmm”, murmelt er, als ich mich zu ihm lege. Er dreht sich um und schließt mich in seine Arme. Von seiner Wärme umgeben, mustere ich sein Gesicht, das entspannt und friedlich wirkt, fast etwas Jungenhaftes ausstrahlt. Es ist nichts
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