Der Kommandant und das Mädchen
anruft, während ich nicht da bin, damit sie ihren großen Auftritt bekommt und mich in der Folge vielleicht ersetzt. In diesem Fall ist ihr Eifer sogar hilfreich, weil ich weiß, dass sie nicht gleichzeitig Anrufe entgegennehmen und mir nachspionieren kann. “Ich bin bald wieder zurück.”
So schnell wie eben möglich, ohne dabei zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, begebe ich mich von der Burg zum Marktplatz und kaufe am Obststand ein paar Äpfel, damit ich bei meiner Rückkehr auch tatsächlich Besorgungen vorweisen kann. Nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass mich niemand verfolgt, gehe ich auf einem Umweg zum Haus, in dem der Kommandant wohnt. Im Treppenhaus kommt mir niemand entgegen. Meine Hände zittern vor Aufregung so heftig, dass ich kaum den Schlüssel ins Schloss stecken kann. Ich halte kurz inne. In die Wohnung des Kommandanten einzudringen, ist das Gefährlichste, was ich bislang gemacht habe. Insgeheim hoffe ich, den falschen Schlüssel erwischt zu haben, damit ich mich unverrichteter Dinge zurückziehen kann. Aber der Schlüssel gleitet mühelos ins Schloss.
Ich schlüpfe in die Wohnung und drücke die Tür leise hinter mir zu. Drinnen sehe ich mich kurz um und gehe dann zielstrebig Richtung Arbeitszimmer. Fast erwarte ich, dass mir der Kommandant aus dem Zimmer entgegenkommt und eine Erklärung verlangt, was ich hier zu suchen habe. Doch es ist niemand da. Mein Blick fällt auf den niedrigen Wohnzimmertisch, auf dem sich alte Zeitungen und benutzte Gläser stapeln. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass er eine gute Haushälterin gebrauchen könnte. Allerdings würde er wohl niemandem genug vertrauen, um ihn in seine Wohnung zu lassen. Vielleicht könnte ich ihm ja helfen, indem … ich schüttele energisch den Kopf. Ich habe keine Zeit für solch alberne Gedanken. Das müssen meine Nerven sein, eine andere Erklärung gibt es nicht. Ich hole tief Luft und betrete das Arbeitszimmer. Am Schreibtisch angekommen, will ich die Schublade aufziehen, doch … sie bewegt sich nicht. Sie ist abgeschlossen! Mir wird übel. Warum sollte er ausgerechnet jetzt seinen Schreibtisch abschließen? Vielleicht ist das eine Falle, vielleicht stürmt gleich die Gestapo herein und nimmt mich fest.
Raus hier!
, schreit mich eine Stimme in meinem Kopf an.
Gib auf und verschwinde, ehe es zu spät ist!
Doch dann denke ich an meine Eltern drüben im Ghetto. Ich muss sie retten. Sie sind der Grund für mein Handeln, dafür, dass ich mich entehrt und aus meiner Ehe eine Farce gemacht habe. Plötzlich überkommt mich ein Gefühl großer Erschöpfung.
Nein, ich muss diese Schublade öffnen – nur wie? Ich könnte sie wohl aufbrechen, aber das steht natürlich nicht zur Debatte. Selbst wenn mir das gelingen sollte, würde der Kommandant wissen, dass jemand in seiner Wohnung war. Ich suche auf dem Schreibtisch nach etwas, womit ich das Schloss öffnen kann, und entdecke eine Büroklammer. Ich biege sie auseinander und schiebe ein Ende ins Schloss, stoße jedoch auf keinen Widerstand. Noch ein Versuch, aber wieder nichts.
Mein Atem geht schwerer, und ich merke, wie mir Schweißtropfen in den Nacken laufen. Das ist unmöglich. Ich sollte einfach wieder gehen, überlege ich. Dann jedoch schüttele ich energisch den Kopf. Ich werde das schon hinbekommen. Beim nächsten Versuch findet die Büroklammer einen Widerstand, den ich zur Seite wegdrücken kann. Gebannt ziehe ich am Griff, und tatsächlich geht die Schublade auf. Ich fasse unter den Stapel Papiere und überlege für Sekunden, ob ich mir das Geheimfach vielleicht nur eingebildet habe, weil ich etwas finden wollte. Doch da ist der Spalt im Boden. Langsam hebe ich die Holzplatte hoch, und im Fach darunter entdecke ich Papiere mit einem mir fremden Briefkopf, die vom 2. November datiert, also erst wenige Tage alt sind. Ich ziehe die Dokumente aus dem Geheimfach und überfliege sie. Etliche militärische Begriffe sind in den Text eingestreut, die ich nicht verstehe. Dafür taucht immer wieder das Wort
Juden
auf. Mir stockt der Atem. Das sind die Papiere, die Alek braucht.
Ich lese weiter, obwohl ich die Wohnung schnellstens verlassen sollte. Das Ghetto soll aufgelöst werden, lese ich da, die Juden will man wegbringen. Mein Magen verkrampft sich bei diesen Zeilen. In dem Schreiben ist von einer veränderten Vorgehensweise die Rede: Im Gegensatz zu den Juden, die man bislang aus dem Ghetto verschleppt hat, soll künftig niemand mehr ins Arbeitslager Plaszow gebracht werden,
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