Der Kommandant und das Mädchen
von der konzentrierten, angespannten Miene zu sehen, die er tagsüber wie eine Maske trägt.
Abermals schlafe ich ein, und ich finde mich in dem Traum wieder, in dem ich mich mit dem Rabbi im Park aufhalte. Diesmal hält er einen Säugling in seinen Armen. Einen Moment lang überlege ich, ob es sich dabei um den jüngeren Łukasz handelt. “Wo ist mein Sohn?”, will der Rabbi wieder wissen. Ich antworte ihm nicht. Der Säugling in seinen Armen ist nicht Łukasz, es ist das ungeborene Kind, das sterben musste, als seine Mutter erschossen wurde. “Wo ist er?”
In diesem Augenblick höre ich ein Rascheln aus einem Busch in der Nähe. Łukasz kommt kichernd hervorgestürmt. “
Tata!”
, ruft er und rennt auf den Rabbi zu. Der nimmt den Jungen mit seinem freien Arm hoch und drückt beide Kinder erfreut an sich. Doch als er sich zu mir dreht, liegt ein anklagender Ausdruck auf seinem Gesicht. Ohne ein weiteres Wort geht er mit den Kindern davon. Tief in meinem Inneren formt sich ein lauter Aufschrei. “Nein, nein!”, rufe ich ihm nach, als der Rabbi mit den Kindern im Nebel verschwindet.
“Nein, nein!”, wiederhole ich und öffne die Augen. Ich liege nach wie vor im Bett des Kommandanten. Er ist wach und liegt auf der Seite, dabei sieht er mich besorgt an.
“Ist alles in Ordnung?”, fragt er.
“Ja, nur ein Traum”, erwidere ich und hoffe, ich habe nicht etwa im Traum gesprochen.
Er streicht eine Locke zur Seite, die mir in die Stirn gefallen ist. “Wovon hast du geträumt?”
“Von Łukasz”, antworte ich wahrheitsgemäß. “Manchmal bin ich in großer Sorge. Er hat in seinem jungen Leben schon so viel durchmachen müssen. Der Verlust seiner Eltern, der Umzug hierher …”
“Er bedeutet dir sehr viel.”
Ich nicke. “Manchmal ist er für mich mehr wie ein eigenes Kind denn wie ein kleiner Bruder. Das macht wohl der Altersunterschied.”
Der Kommandant dreht sich auf den Rücken und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Unwillkürlich betrachte ich seinen nackten Oberkörper. Obwohl er meiner Schätzung nach auf die fünfzig zugehen muss, wirkt er so kraftvoll und durchtrainiert, als wäre er erst halb so alt. Seine Brust ist muskulös, der Bauch ist straff. “Ich habe es immer bedauert, keine Kinder zu haben”, sagt er.
“Vielleicht wirst du eines Tages Kinder haben”, gebe ich zu bedenken. “Es ist noch nicht zu spät dafür.”
“Vielleicht”, stimmt er mir zu. “Möchtest du Kinder haben, Anna?”
“Aber natürlich”, erkläre ich prompt und füge in Gedanken hinzu:
Aber mit meinem Ehemann.
Wieder legt er einen Arm um mich und zieht mich zu sich heran, bis ich meinen Kopf an seine Schulter legen kann. “Danke, dass du in dieser Nacht hiergeblieben bist. Es ist schön, neben dir aufzuwachen.”
“Na ja, bei dieser Konkurrenz. Sicherlich wäre die Baronin auch geblieben.” Eigentlich sollte das ein Scherz sein, dennoch klingen meine Worte nach Eifersucht und Unsicherheit.
Der Kommandant dreht sich zu mir, sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. “Das tut mir wirklich leid”, beteuert er. “Ich hatte dir nie wehtun wollen. Es gibt keine andere Frau in meinem Leben.” Er sieht mich mit einem ehrlichen Ausdruck in seinen Augen an. “Als Margot starb, dachte ich, ich könnte nie wieder für eine Frau etwas empfinden. Bis ich dir begegnete. Zum ersten Mal seit zwei Jahren freue ich mich, wenn ich morgens aufwache, und das liegt nur an dir. Du bist der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann. Ich liebe dich, Anna.”
“Und ich dich”, bringe ich nach einer vor Verblüffung endlos lang erscheinenden Pause heraus. Ich muss schwer schlucken, als mir diese Worte über die Lippen kommen.
“Oh, Anna”, sagt er, zieht mich an sich und küsst mich. Minuten später lösen wir uns wieder voneinander. “Ich kann uns Tee machen”, bietet er an und setzt sich im Bett auf. “Ich habe Brot und Käse für ein Frühstück, aber ich kann uns auch etwas kommen lassen.”
Ich schüttele den Kopf. “Nein, es tut mir leid, doch ich muss jetzt gehen. Es ist schon spät, und ich muss einiges für Krysia erledigen. Außerdem wird Łukasz mich vermissen.”
“Ja, das verstehe ich. Stanislaw wird dich nach Hause bringen.”
Ich ziehe mich an und gebe ihm zum Abschied einen Kuss. Vor dem Haus steige ich dankbar in den Wagen. Ich hatte überlegt, dieses Angebot abzulehnen und den Bus zu nehmen, aber mir ist mein zerzaustes Haar genauso peinlich wie die Tatsache, dass
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