Der Kommandant und das Mädchen
Vorhang ein Stück an und sieht hinaus.
“Glaubst du, man ist uns gefolgt?”, frage ich.
Marek schüttelt den Kopf. “Dafür ist Avi viel zu gut.” Er lässt den Vorhang sinken. “Also, was gibt es?”
Vergeblich sehe ich mich in dem winzigen Raum nach einem Hinweis auf die anderen um. “Wo ist Alek?”, frage ich. Wegen der Kälte klappern meine Zähne.
“Er ist nicht in der Stadt. Wieso musst du uns so dringend sprechen?”
Ich hatte mir vorgestellt, mit Alek zu reden, nicht mit Marek, auch wenn der sein bester Freund ist. Letzteres ist der Grund, weshalb ich ihm trauen kann. “Das hier”, antworte ich und gebe ihm die Durchschläge.
Er nimmt die Papiere entgegen und überfliegt die erste Seite. “Mein Deutsch ist nicht sehr gut. Sag mir, was da steht.”
“Da steht, dass die Deutschen das Ghetto auflösen und die Juden nicht nach Plaszow, sondern nach Auschwitz oder Belzec schicken werden.”
Marek zeigt keine Regung. “Ja, das ist bekannt. Davon haben wir bereits gehört.”
Überrascht sehe ich ihn an. Die Bewegung wusste längst von der bevorstehenden Auflösung des Ghettos? Einmal mehr wird mir klar, wie wenig ich eigentlich über diese Gruppe weiß, für die ich täglich mein Leben riskiere.
“Die Frage ist nur, wann das geschieht”, fügt er hinzu.
“Im Frühjahr”, entgegne ich.
Er zuckt sichtlich zusammen. “Was?”
“Sie werden die Juden fortbringen, sobald im Frühjahr die Baracken in Birkenau fertig sind.”
“Frühjahr”, sagt er ungläubig und reißt mir die Durchschläge aus der Hand.
“Ja, das steht alles da drin.” Ich kann nicht anders, als Stolz auf meine Leistung zu verspüren. “Dieses Schreiben ist keine drei Wochen alt.”
“Genau das mussten wir wissen. Aber das ist viel früher, als wir dachten.” Er faltet die Blätter zusammen und steckt sie in seinen Mantel. “Ich muss das zu Alek bringen.” Er öffnet die Tür, ich folge ihm nach draußen. Vielleicht wird er mich zu den anderen mitnehmen. Bestimmt habe ich es mir nach dieser Leistung verdient, ihn zu begleiten. Doch er zeigt in die Richtung, aus der Avi und ich gekommen sind. “Wenn du dort zurückgehst, kommst du auf die Straße, die nach Chelm führt.”
Ich will etwas erwidern, ihn fragen, was mit den anderen ist und ob er etwas von Jakub gehört hat. Ich muss wissen, wie ich mit ihm Kontakt aufnehmen kann. “Du darfst nicht wieder herkommen”, erklärt er, als hätte er meine Gedanken gelesen. Dann dreht er sich um und geht davon. Während ich ihm nachsehe, wird mir bewusst, dass er sich nicht einmal bedankt hat.
Mein Blick fällt auf den Schuppen, und ich überlege, ob er wohl der Bewegung eine Weile als Versteck gedient hat. Plötzlich erinnere ich mich an den Handschuh auf dem Tisch. Hoffnung regt sich in mir, denn Jakub trug auch solche Handschuhe. Vielleicht hat er sich in jüngster Zeit noch hier aufgehalten … Mir schaudert, als ich mir vorstelle, er könnte in diesem kleinen, kalten Raum gewesen sein. Doch wenn er sich schon so dicht in meiner Nähe aufgehalten hat, wäre es ihm bestimmt möglich gewesen, zu mir zu kommen und mich zu sehen, oder nicht?
Es reicht
, ermahne ich mich. Ich habe erledigt, was zu erledigen war, nämlich die Papiere an die Bewegung weitergeleitet. Jetzt muss ich zurück nach Hause. Es muss bereits gegen zehn Uhr sein, in wenigen Minuten tritt die Ausgangssperre in Kraft. Krysia wird sich Sorgen um mich machen. Ich gehe die Uferböschung hinauf und muss aufpassen, dass ich auf dem glatten Untergrund nicht wegrutsche. Ich denke wieder an Marek. Seine Miene war so eigenartig, als ich ihm die Information gab. Es war fast so, als würde er lächeln. Dann erinnere ich mich an die Unterhaltung, die ich bei meinem letzten Schabbes-Essen in der ulica Józefińska im Ghetto belauscht habe. Marek ist einer von den aggressiveren Mitgliedern des Widerstands, er will die Nazis aktiv angreifen. Diese Information über die Auflösung des Ghettos dürfte seine Position innerhalb der Gruppe stärken. Jetzt werden sie versuchen, etwas zu unternehmen. Mein Magen verkrampft sich bei dem Gedanken, mit einem Mal überkommt mich Unbehagen. Zugegeben, ich habe der Bewegung hilfreiche Informationen geliefert, doch gleichzeitig habe ich Angst, ich könnte Jakub in große Gefahr gebracht haben.
Nachdem ich die Böschung bezwungen habe, sehe ich mich auf der menschenleeren Straße um und gehe zügig durch die Stadt in Richtung Chelm. In weiter Ferne verkündet eine Sirene den
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