Der Kommandant und das Mädchen
Freitagabend, kurz vor zehn. Łukasz schläft schon lange, und Krysia, die sonst im Haushalt mithilft, hat sich mit Kopfschmerzen zu Bett gelegt. Mir macht die Arbeit nichts aus, es fällt mir immer leichter, am Abend aufzubleiben, wenn ich weiß, dass ich am nächsten Morgen nicht in aller Frühe wieder aufstehen muss. In den Abendstunden herrscht hier eine himmlische Ruhe, die ich sonst nirgendwo finde. Dennoch macht es mir zunehmend zu schaffen, vorzugeben, jemand anderes zu sein. Ich fühle mich mit meinen Kräften schlichtweg am Ende.
Mehr als zwei Wochen ist es inzwischen her, dass ich Marek getroffen habe, aber bis jetzt habe ich von der Bewegung nichts weiter gehört. Ich fasse in meine Tasche, um den Bernstein zu fühlen, der mir an jenem Abend zugesteckt wurde. Seitdem ist es mir ein paar Mal so vorgekommen, als würde mich jemand beobachten, während ich die Straße entlanggehe. Bei jeder dieser Gelegenheiten drehe ich mich um und hoffe, irgendwo Jakub zu entdecken, doch ich sehe ihn nie. Allmählich beginne ich mich zu fragen, ob ich mir das alles nur eingebildet habe.
Unterdessen begleite ich den Kommandanten weiterhin in seine Wohnung, wenn er das wünscht, und suche nach anderen nützlichen Dokumenten, während er schläft. Gefunden habe ich aber nichts mehr. In den letzten Tagen haben sich ohnehin nur wenige Gelegenheiten für meine Suche ergeben, da ich den Kommandanten nicht sehr oft zu Gesicht bekomme. Der Krieg läuft nicht gut für die Deutschen. Das weiß ich nicht nur aus den Telegrammen, die über meinen Schreibtisch gehen, sondern das verraten mir auch die geflüsterten Gespräche und verdrießlichen Gesichter der deutschen Offiziere, denen ich in den Korridoren begegne. Der Kommandant muss länger arbeiten, es finden mehr Besprechungen statt, die manchmal bis spät in die Nacht hineingehen. In den wenigen Nächten, die wir gemeinsam verbringen, schläft er immer nur ein paar Stunden und steht meist vor Sonnenaufgang auf. Dann höre ich ihn durch die Wohnung gehen, oder er sitzt in seinem Arbeitszimmer und liest irgendwelche Dokumente, während ich wach im Bett liege.
Mit jedem Tag, an dem ich meine Suche nicht fortsetzen kann, wächst meine Unzufriedenheit. Vielleicht sollte ich mit Alek Kontakt aufnehmen und ihn bitten, mich von diesem Auftrag zu entbinden. Es ist sinnlos, dieses Spiel fortzusetzen, wenn nichts weiter dabei herauskommt. Trotzdem habe ich es noch nicht mal versucht, Alek diesen Vorschlag zu unterbreiten. Stattdessen rede ich mir ein, dass es notwendig ist, meine Mission weiter zu verfolgen. Wenn ich aber ganz ehrlich bin, dann muss ich gestehen, dass ich meinen Nächten mit dem Kommandanten auch gar kein Ende setzen
will
. Ich freue mich auf unsere Treffen, und die Wärme, die dieser Mann mir gibt, hat auf mich eine tröstende Wirkung. Ich rede mir längst nicht mehr ein, dass es nur rein körperliche Anziehung ist, die ich empfinde. Vielmehr genieße ich seine Nähe, was mir umso deutlicher geworden ist, seit unsere gemeinsamen Nächte seltener geworden sind.
Aber selbst wenn ich dem Ganzen ein Ende setzen wollte, wie sollte das ablaufen? Man trennt sich nicht einfach so von einem hochrangigen Nazi, vor allem nicht vom Kommandanten. An den liebevollen Blicken, die er mir zuwirft, kann ich deutlich erkennen, dass ein Ende unserer Beziehung für ihn kein Thema ist. Wir sind uns einig, dass unsere Affäre bis auf Weiteres geheim bleiben muss, da es ihm nicht gut zu Gesicht stehen würde, dass er sich mit seiner polnischen Assistentin eingelassen hat. Doch wenn wir allein sind, redet er oft von einer gemeinsamen Zukunft. “Nach dem Krieg werden wir heiraten”, hat er mir bereits mehr als einmal versprochen, “und dann kommst du mit nach Deutschland. Du, Krysia und dein Bruder, ihr werdet mit mir in unserem Haus in Hamburg wohnen.”
Ich erwidere nichts, wenn er vom Heiraten spricht, aber innerlich verkrampft sich mein ganzer Körper. Jede andere junge Frau, die eine Affäre mit ihrem Vorgesetzten hat, würde sich über ein Eheversprechen freuen. Doch ich bin bereits verheiratet und finde solche Überlegungen albern, wenn nicht gar beängstigend. Wie soll ich dem Kommandanten je entkommen und zu Jakub zurückkehren? Werden die Deutschen verlieren, dann ist das kein Problem. Aber wenn sie siegen … nein, eine solche Möglichkeit darf ich gar nicht erst in Betracht ziehen.
Die Fensterläden rappeln laut. Wir haben Anfang Dezember, und draußen ist es bitterkalt. Es ist
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