Der Kommandant und das Mädchen
“Du hast doch nicht etwa vor, heute Abend dorthin zu gehen?”
“Natürlich nicht …”, setze ich an, aber sie hebt ihre Hand.
“Mach dir gar nicht erst die Mühe, es abzustreiten. Ich will nicht, dass du mich belügst, und vermutlich ist es besser, wenn ich es nicht weiß. Ich halte es für zu riskant, auch wenn es letztlich deine Entscheidung ist.” Sie presst die Lippen zusammen und lächelt mir flüchtig zu. “Das Recht hast du dir verdient.” Mit diesen Worten wendet sie sich ab, lässt die Schultern hängen und geht aus dem Zimmer.
Am Abend bringen wir Łukasz ins Bett. Dann gehe ich nach unten in den Flur, Krysia folgt mir und sieht wortlos zu, wie ich meinen Mantel anziehe. “Ich werde nicht allzu lange weg sein”, verspreche ich und stecke die Papiere in meine Manteltasche.
“Hier.” Krysia zieht mehrere Münzen und Scheine aus ihrer Tasche. “Nimm das hier. Der Wirt wird eher zum Reden aufgelegt sein, wenn du ihm ein großzügiges Trinkgeld gibst.”
Widerstrebend nehme ich das Geld an. “Danke.”
Draußen ist es für einen Abend im November bitterkalt, außerdem hat es zu schneien begonnen. Ich gehe die zum Stadtzentrum führende Straße entlang und sehe einen Bus nahen. Bei seinem Anblick beginne ich zu überlegen, ob ich ihn nehmen soll. Wenn mich einer unserer Nachbarn sieht, wird man sich fragen, warum ich um diese Zeit noch unterwegs bin. Andererseits habe ich nicht viel Zeit, und es würde mir einen langen Fußmarsch ersparen. Ich laufe zum Bus und steige ein. Zwar ist er fast völlig leer, dennoch setze ich mich in die letzte Reihe und schlage den Mantelkragen hoch.
Wenig später steige ich in der Nähe des Marktplatzes aus. Der Schneefall ist stärker geworden, und das Pflaster ist rutschig, als ich mich auf den Weg zur ulica Mikolajska mache. Die Bar, von der Krysia erzählt hat, ist eine von vielen Kellerbars in der Innenstadt von Kraków. Am Kopf der Treppe bleibe ich zunächst stehen und lausche der Musik und den Stimmen, die von unten an meine Ohren dringen. Ich bin noch nie in einer Bar gewesen, weder in dieser noch einer anderen. Das einzige Lokal, das ich hin und wieder betreten habe, war das kleine Café in Kazimierz, wo mein Vater sich manchmal mit Nachbarn auf einen Plausch traf. Ich atme tief durch, dann gehe ich die Treppe hinunter und öffne die Tür. Mir schlägt der Gestank von Zigarettenrauch entgegen, aber wenigstens ist die Bar nicht so voll, wie ich es aufgrund der Geräuschkulisse erwartet hätte. In der hinteren Ecke sitzen einige Männer an einem Tisch und betrachten mich neugierig, doch ich erwidere ihre Blicke nicht, sondern begebe mich zur Theke. “Einen Tee bitte”, sage ich zu dem großen, bärtigen Mann, während ich mich auf einen der Hocker setze. Ich schätze ihn auf etwa dreißig und frage mich, ob er wohl alt genug ist, um der Wirt zu sein.
Er stellt mir ein Glas Tee hin. “Kann ich sonst noch was für Sie tun?”
“Ist Franciszek Koch hier?”, frage ich, als ich genügend Mut gefasst habe.
Von einem misstrauischen Blick begleitet fragt er: “Wer will das wissen?”
Ich zögere kurz, dann antworte ich leise “Mein Name ist Anna Lipowski, ich bin die Nichte von Krysia Smok.”
Sein Gesicht verrät mir, dass ihm der Name ein Begriff ist. Er kommt ein Stück näher. “Er steht vor Ihnen. Was wollen Sie?”
“Ich bin auf der Suche nach Alek und den anderen.”
Sofort verhärtet sich seine Miene und er weicht einen Schritt zurück. “Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.”
“Bitte! Es ist sehr wichtig, dass ich sie finde.” Ich greife in meine Tasche. “Wenn es Ihnen ums Geld geht …”
“Nicht!”, herrscht er mich an, dann fährt er mit gesenkter Stimme fort: “Hier ist es nicht sicher. Die Männer dort drüben sind Spitzel. Wenn die etwas sehen oder hören, landen wir beide im Gefängnis.”
Ich bekomme eine Gänsehaut. “Krysia erwähnte nichts davon …”
“Sie wusste auch nichts davon.” Sein Blick verfinstert sich. “Diese Leute kommen erst seit ein paar Wochen regelmäßig her.”
“Dann kennen Sie also Alek?”
“Ich glaube zu wissen, wen Sie meinen. Groß, Kinnbart?” Ich nicke. “Er und ein paar andere kamen regelmäßig her und trafen sich hier. Aber ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Ich dachte, nach der letzten Verhaftungswelle gaben sie es auf und flohen in die Wälder oder über die Grenze?”
Meine Hoffnungen sind am Boden zerstört. “Vielen Dank”, sage ich
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