Der Kommandant und das Mädchen
Ohren gekommen, dass einige Leute über die Grenze in die Tschechoslowakei geflohen sind”, sage ich stattdessen.
“Das ist gefährlich. Der Weg durch die Berge ist mühselig, und wenn man erst mal dort ist, befindet man sich keineswegs in Sicherheit. Wie die Polen können auch die Slowaken sehr brutal zu den Juden sein.”
“Die Polen sind doch nett zu uns”, wende ich ein. “Denk nur an Krysia.”
“Einige so wie Krysia sind nett, andere interessieren sich nicht für uns, und wieder andere sind so übel wie die Deutschen. Die meisten von ihnen tun nur das, was zum eigenen Überleben erforderlich ist.”
“Ja, das mag wohl stimmen.” Trotz allem, was ich bislang erlebt habe, kann ich noch immer nicht recht akzeptieren, dass sich Menschen, die ich mein Leben lang kannte, so bereitwillig von uns abgewandt haben.
Wir schlafen irgendwann ein, und als wir spät am Morgen erwachen, lieben wir uns noch einmal, bevor wir aufstehen. Krysia hat eine Notiz hinterlassen, sie und Łukasz seien in der Stadt. Für uns hat sie bereits etwas zu essen hingestellt. “Dann wusste Krysia, dass du herkommst?”, frage ich, als ich Brot, Obst und Käse auf zwei Teller verteile.
Er sucht im Küchenschrank nach Gläsern und füllt sie mit Wasser. “Sie wusste, dass die Chance besteht.”
Gemeinsam bringen wir alles in den Salon und lassen uns auf dem Boden vor dem Kamin nieder. “Wie viel Zeit hast du?”, frage ich, schneide eine Scheibe Apfel ab und füttere ihn damit.
“Sobald die Sonne untergeht, muss ich mich auf den Weg machen”, erwidert er zwischen zwei Bissen. Stumm verfluche ich, dass die Tage so kurz sind und es bereits am späten Nachmittag wieder dunkel wird.
Schweigend frühstücken wir, während mir all die Fragen durch den Kopf gehen, die ich ihm stellen möchte. “Jakub”, sage ich schließlich zaghaft und lege das Messer beiseite. “Wie kommt es, dass du hier bist?”
Er hört auf zu kauen und sieht mich an. “Wie meinst du das?”
Nachdem ich einen Schluck Wasser getrunken habe, entgegne ich: “Ich meine, über ein Jahr lang war es zu gefährlich, mich zu besuchen. Weder ins Ghetto noch hierher konntest du kommen. Wieso geht es jetzt?”
“Ich war die meiste Zeit unterwegs”, erklärt er. “Erst seit Kurzem bin ich wieder in Kraków.”
“Dann warst du das wirklich, nicht wahr? Ich meine den Abend vor ein paar Wochen, in der ulica Starowislna … der Bernstein … das warst tatsächlich du?”
Er nickt. “Ich war bis kurz vor deiner Ankunft zusammen mit Marek in diesem Schuppen. Da Avi dort war, wollte ich mich nicht zeigen. Aber als du weggingst, folgte ich dir, um Gewissheit zu haben, dass es dir gut geht.”
“Und als du den Wagen der Gestapo sahst, da hast du mich zu Boden geworfen, damit ich nicht erwischt werde?” Wieder nickt er. “Dafür bin ich dir sehr dankbar. Doch selbst da hast du mir nur den Stein zugesteckt, anstatt dich mir zu zeigen.”
“Es war zu gefährlich.”
“Aber jetzt bist du hier”, hake ich nach. “Darum frage ich dich, was sich geändert hat.”
“Nichts. Es ist nach wie vor gefährlich. Aber ich bin hergekommen, weil …” Er weicht meinem Blick aus. “Es kann sich bald einiges ändern …”
“Wie meinst du das?”, frage ich, liefere jedoch mit einem entsetzten “Nein!” selbst die Antwort. Seit ich Marek die Informationen gab, habe ich so ein Gefühl, dass Alek und die anderen einen großen Schlag gegen die Besatzer planen. Wann und wie sie zuschlagen werden, weiß ich nicht, doch mein Instinkt sagt mir, es wird passieren. Deshalb also ist Jakub hergekommen. Was auch geplant wird, er ist besorgt, dass er mich vielleicht nie mehr wiedersieht. “Nein!”, rufe ich abermals, schiebe meinen Teller weg und klammere mich fest an meinen Mann.
“Schhht”, beschwichtigt er, während er mich an sich drückt und mir übers Haar streicht. Erst nach einigen Minuten verstummt mein Schluchzen. “Emma …” Er setzt mich auf, dreht mich auf seinem Schoß um und wiegt mich wie ein kleines Kind. “Heute Abend beginnt Chanukka. Erinnerst du dich an die Geschichte der Makkabäer?” Ich nicke stumm. “Wofür stehen die vier Buchstaben auf dem Dreidl?”
“Nes gadol haya sham”
, zitiere ich auf Hebräisch.
“Richtig. Und was bedeutet das?”
“Ein großes Wunder ist hier geschehen.”
“Ganz genau. Ein großes Wunder ereignete sich in Israel, als die Makkabäer den Tempel wiederherstellten und der winzige Tropfen Öl acht Nächte lang
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