Der Kommandant und das Mädchen
ist wie Marta, beide begegnen den Anführern des Widerstands mit sehr viel Ehrfurcht. Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht anders gemacht, doch in den letzten Monaten habe ich zu viel gesehen. Ein Angriff auf die Deutschen wäre selbstmörderisch. Ich muss versuchen, sie davon abzuhalten.
An den folgenden Tagen vergeht die Zeit im Schneckentempo. Am Dienstagnachmittag nach Feierabend beeile ich mich, zum Marktplatz zu kommen und das Café zu erreichen, in dem ich mich auch früher mit Alek und den anderen getroffen hatte. Als ich eintrete, sehe ich, dass es so gut wie menschenleer ist. An einem Tisch in einer Ecke des Lokals sitzt ein Pärchen und raucht Zigaretten. Von Alek ist nichts zu sehen, und ich überlege, ob ich nur zu früh bin oder ob er mich versetzen wird. Ich versuche, Ruhe zu bewahren, und nehme an einem der vielen freien Tische Platz. Bei der Kellnerin bestelle ich ein Glas Tee.
Einige Minuten später trifft Alek doch noch ein. Seine Wangen fühlen sich wegen der Kälte eisig an, als er mich begrüßt. “Das letzte Mal ist lange her”, sagt er und setzt sich zu mir.
“Ja. Hast du bekommen, was ich Marek gab?”
Er nickt. “Das war überaus hilfreich. Genau das, wonach wir gesucht haben.” Er redet erst weiter, nachdem mein Tee an den Tisch gebracht wurde. “Du hast noch etwas für mich?”, fragt er erwartungsvoll und sieht mich an.
Ich zögere. Ich wusste, dass meine dringende Nachricht Alek glauben machen würde, dass es weitere Informationen gibt. Es missfällt mir, ihn so in die Irre geführt zu haben. “Nein, leider nicht.”
Alek stutzt. “Und warum lässt du mich dann herkommen? Stimmt etwas nicht? Ist dir jemand auf die Schliche gekommen?”
Ich schüttele den Kopf. “Niemand weiß etwas. Aber trotzdem … Alek, das ist doch völlig verrückt!”
Auf einmal beginnt er zu verstehen und schlägt mit der Faust so fest auf den Tisch, dass die Tassen und Unterteller darauf scheppern. Das Paar am anderen Tisch sieht zu uns. “Ich wusste, ich hätte Jakub nie gestatten dürfen, zu dir zu gehen”, zischt er. Verblüfft stelle ich fest, dass ich ihn noch nie so wütend erlebt habe.
“Er hat mir gar nichts gesagt. Ich bin von ganz allein darauf gekommen.”
“Worauf?”, will er wissen.
“D-dass ihr etwas Gefährliches vorhabt”, stottere ich.
“Etwas Gefährliches? Emma, dieser ganze Krieg ist gefährlich. Dich zum Kommandanten zu schicken war gefährlich. Łukasz zu verstecken ist gefährlich. Unsere Mitglieder in den Wald zu schicken ebenfalls. Und trotz aller Gefahren und Risiken muss unser Volk weiter leiden und sterben.” Wut lodert in seinen Augen. Keine Wut, die gegen mich gerichtet ist, sondern gegen das Böse, das der Widerstand zu bekämpfen versucht. Vor drei Tagen habe ich den gleichen Ausdruck bei Jakub gesehen. Sie alle eint die Entschlossenheit, das in die Tat umzusetzen, was sie geplant haben.
“Aber …”, will ich protestieren.
Alek hebt abwehrend eine Hand. “Das geht dich nichts an.”
“Das geht mich nichts an?”
Nun werde ich laut, und prompt sieht die Frau am anderen Tisch neugierig zu uns herüber. “Das geht mich nichts an?”, wiederhole ich leiser. “Alek, ich habe mein Leben für die Bewegung aufs Spiel gesetzt. Ich ließ meine Eltern im Stich, ich habe meinen Mann betrogen und Schande über meine Ehe gebracht. Es geht mich sehr wohl etwas an.” Ich sehe ihm in die Augen. “Es ist mein gutes Recht.”
Sekundenlang sehen wir uns zornig an, ohne ein Wort zu sprechen. “Du bist in den letzten Monaten viel entschlossener geworden”, sagt er schließlich mit einem überraschten Unterton, sein Gesicht nimmt einen sanfteren Zug an. “Also gut, was willst du wissen?”
“Warum gerade jetzt?”
“Unserem Volk droht große Gefahr, Emma.”
“Das Ghetto …”
“Ich rede nicht vom Ghetto, sondern von den Lagern.” Als ich ihn verständnislos ansehe, fragt er: “Du hast schon mal von Auschwitz gehört?”
“Ja, das ist ein Arbeitslager.” Bei meinen Worten muss ich an den Ausdruck in den Augen des Kommandanten denken, nachdem er von seinem Besuch in Auschwitz zurückgekehrt war.
“Das ist das, was die Nazis den Leuten erzählen und was die Leute glauben sollen. Aber es ist ein Todeslager, Emma. Die Nazis haben damit angefangen, Juden zu vergasen und ihre Leichen in Öfen zu verbrennen. Jeden Tag. Tausende Juden. Bald wird es keine Ghettos und keine Arbeitslager mehr geben. Nur noch Auschwitz, Belzec und andere Todeslager.
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