Der Kommandant und das Mädchen
anfangen können. Entsprechend unverständlich waren für mich Dinge wie eine Schneeballschlacht oder das Bauen eines Schneemanns. Genauso war ich mir zunächst im Zweifel, ob es Jakubs Ernst war, als er mich aufforderte, mich rücklings in den Schnee zu legen und mit Armen und Beinen zu rudern, um die Konturen eines Engels entstehen zu lassen. Doch er konnte mich überreden, und als ich neben ihm lachend im Schnee lag und die eisige Nässe allmählich meine Kleidung durchdrang, da sah ich hinauf zum weißen Himmel, atmete die kalte, klare Luft ein und fühlte mich zum allerersten Mal richtig lebendig.
Jakub. Ich kann sein Gesicht so deutlich vor mir sehen, dass ich glaube, ich könnte es berühren. Hat er es dort warm genug, wo er sich momentan aufhält? Hat er überhaupt ein Dach über dem Kopf? Eines Tages werden wir wieder gemeinsam ausgelassen im Schnee herumtollen, das schwöre ich mir wortlos, als ich jetzt den Wohnungsschlüssel des Kommandanten aus meiner Tasche hole.
In der Wohnung angekommen, wird mir erst richtig bewusst, dass ich seit fast einem Monat nicht mehr hier gewesen bin. Es sieht unordentlicher aus als je zuvor. Zeitungen liegen herum, überall stehen benutzte Gläser. Wie kann der Kommandant nur in solchen Verhältnissen leben? Er ist doch sonst so ordentlich und genau. Vermutlich liegt es daran, dass er nur selten hier ist und die meiste Zeit im Büro oder auf auswärtigen Terminen verbringt. Ich stelle meinen Einkaufskorb auf den flachen Wohnzimmertisch und beginne aufzuräumen, damit wir später dort essen können.
Als ich die Gläser in die Küche trage, kommt es mir vor, als würde mir Margot von ihrem Foto auf dem Kaminsims aus nachschauen. Ich bleibe stehen und betrachte ihre dunklen Augen. Das Foto entstand vor der Ermordung ihres Vaters, doch ihr Blick hat bereits da etwas Trauriges, so als sei sie von einer düsteren Vorahnung erfüllt. Ich muss an das ältere Foto denken, das der Kommandant auf seinem Schreibtisch stehen hat. Auf diesem Bild sieht sie glücklich und verliebt aus. Eindringlich betrachte ich ihr Gesicht und wünschte, sie könnte mir etwas mehr darüber erzählen, wie der Kommandant früher einmal gewesen ist. Aber sie zeigt keine Regung, ihre Stimme bleibt stumm. Wir sind gar nicht so verschieden, überlege ich plötzlich. Wir sind beide von dem Mann getrennt, den wir lieben, weil der für eine höhere Sache kämpft. Ich will nur hoffen, dass meine Geschichte anders endet als ihre.
Mein Blick fällt auf die Tür zum Arbeitszimmer. Ich könnte mich jetzt dort umsehen, um festzustellen, ob ich in der letzten Zeit etwas nicht mitbekommen habe oder ob es wichtige neue Entwicklungen gibt. Doch im Moment ist mir das zu riskant, da ich nicht weiß, wann der Kommandant heimkommen wird. Nein, ich werde mich erst dann umsehen, wenn er eingeschlafen ist. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal mit ihm intim war. Seit Jakubs Besuch und seit ich von der schrecklichen Vergangenheit des Kommandanten weiß, haben wir das Bett nicht mehr geteilt. Der Gedanke, nun wieder mit ihm zu schlafen, gibt mir das Gefühl, mein Ehegelübde erneut zu brechen. Aber zugleich ist da ein Teil von mir, der sich darauf freut, wieder in seinen Armen zu liegen. Ich wünschte, ich könnte diesen Teil ignorieren. Noch lieber wäre mir, ich wüsste gar nichts von seiner Existenz. Mir schaudert, und während ich versuche, all diese Gedanken zu verdrängen, räume ich die Wohnung auf.
Wenig später trifft der Kommandant ein, als ich gerade das Abendessen auf den Tisch stelle – leichte Kost bestehend aus Brot, Aufschnitt und Käse. “Hallo.” Er beugt sich vor und gibt mir gedankenverloren einen Kuss. Sein Gesicht wirkt angespannt, und obwohl ich es zu gern wüsste, wage ich nicht, ihn zu fragen, was heute Nachmittag noch vorgefallen ist, dass sich seine Laune so verändert hat.
Ohne ein weiteres Wort stellt er seine schwere Aktentasche ab. Vielleicht wird er so beschäftigt sein, dass er heute Nacht gar keine Zeit für mich hat, überlege ich, während ich ihm ein großes und mir ein deutlich kleineres Glas Weinbrand einschenke. Doch wenn das der Fall ist, bekomme ich keine Gelegenheit, mich in seinem Arbeitszimmer umzusehen.
Ich bringe die Gläser zum Tisch und setze mich. Wenige Minuten später kommt er aus dem Schlafzimmer zurück. Seine Jacke hat er abgelegt, die Hemdsärmel sind hochgekrempelt. “Komm, setz dich zu mir”, fordere ich ihn
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