Der Kommandant und das Mädchen
ebenso weiß wie von der Tatsache, dass die Bewegung jeden Moment zu einem Gegenschlag ausholen wird.
Ich erinnere mich, dass ich in meiner Jugend einmal einen Roman las, in dem der Held in die Zukunft blicken konnte. Ich sagte zu meinem Vater, wie wundervoll es doch wäre, diese Gabe zu besitzen, doch er schüttelte den Kopf und hielt dagegen. “Die Unberechenbarkeit ist das Beste, was das Leben zu bieten hat. Die Überraschung, wer oder was hinter der nächsten Ecke auf dich wartet, hält uns am Leben. Es ist die Hoffnung. Die Zukunft zu kennen, ohne sie ändern zu können …” Abermals schüttelte er den Kopf. “Was wäre das für ein Fluch.”
Es ist tatsächlich ein Fluch, überlege ich jetzt, während ich den Schneeklumpen zu Boden fallen lasse und zur Haustür gehe. Trotz aller Enthüllungen ist es mir irgendwie gelungen, weiter für den Kommandanten zu arbeiten. Mir bleibt keine andere Wahl, nur dass ich ihn jetzt mit anderen Augen sehe. Ich stecke nicht länger den Kopf in den Sand, um zu ignorieren, wer er ist und was er macht. Es ist mir gelungen, im Büro meine widersprüchlichen Gefühle ihm gegenüber zu überspielen. Zum Glück musste ich mich auch nicht mehr privat mit ihm treffen, weil seine Arbeit ihm keine Zeit dafür ließ.
Bis jetzt. Im Lauf des heutigen Tages rief er mich zum Diktat, und mitten in einem Satz hielt er inne, beugte sich vor und nahm mir den Stenoblock aus der Hand.
Überrascht sah ich ihn an. “Herr Kommandant?”
“Anna, stimmt etwas nicht?”, fragte er irritiert.
Ja
, wollte ich antworten. Du bist ein Nazi. Deinetwegen sind meine Eltern im Ghetto. Du hast zugelassen, dass dein Schwiegervater ermordet wurde, und du würdest auch Jakub töten, wenn du die Gelegenheit dazu bekämst. Deine verdammte Gestapo drang in unser Haus ein, und jetzt muss Łukasz uns womöglich verlassen. Sind das genug Dinge, die nicht stimmen? “Nein, Herr Kommandant”, erwiderte ich stattdessen mit ruhiger Stimme. “Es ist alles in Ordnung.”
Besorgt legte er eine Hand auf meine. “Du scheinst in Gedanken zu sein, was sonst nicht deine Art ist.” Während ich auf seine Hand sah, musste ich an all das Unheil denken, das dieser Mann angerichtet hat. Es kostete mich große Überwindung, nicht vor ihm zurückzuweichen.
“Es ist wirklich nichts. Alles ist in Ordnung”, wiederholte ich schnell.
“Ganz sicher?”, forschte er nach und musterte mich aufmerksam.
“Ja.” Ich überlegte, welche Erklärung ich ihm geben könnte. “Vermutlich liegt es daran, dass wir bald Weihnachten haben.”
“Das wird es sein”, erwiderte er darauf, klang aber nicht völlig zufriedengestellt. Seine Hand ließ er noch ein paar Sekunden lang auf meiner liegen, dann erst zog er sie zurück. “Nun, das wäre dann für den Augenblick alles.” Ich stand auf, froh darüber, seinen prüfenden Blicken entrinnen zu können. Doch als ich mich abwenden wollte, fasste er meinen Arm. “Sehen wir uns heute Abend?”
Seine Frage traf mich völlig unvorbereitet. Er hatte so viel zu tun, dass ich nie mit einer Einladung gerechnet hätte. Und mir stand auch nicht wirklich der Sinn danach, mit ihm die Nacht zu verbringen. Es fiel mir schon schwer genug, den ganzen Tag im Büro zu sitzen und meine Verachtung ihm gegenüber zu überspielen. Doch auch wenn ich kurz überlegte, was ich erwidern sollte, wusste ich längst, dass ich seiner Einladung folgen würde. “Ja, das wäre schön.”
Kaum hatte ich das ausgesprochen, lächelte er mich glücklich an. “Gut. Wir könnten in Ruhe zu Abend essen. Nur wir beide.” Damit zog er einen Schlüssel und etwas Geld aus seiner Tasche. “Ich muss heute Abend länger arbeiten, aber allzu spät wird es nicht. Warum machst du nicht früher Feierabend und kaufst auf dem Weg zu meiner Wohnung etwas zu essen? Du kannst es dir bequem machen und ein wenig schlafen, falls du müde bist. Ich mache hier Schluss, sobald ich kann.” Die Zuneigung, die seine Augen dabei ausstrahlten, war so ehrlich, dass ich mich für einen Moment tatsächlich zu ihm hingezogen fühlte.
Mittlerweile schneit es nicht mehr. Als ich die von einer dicken weißen Schicht überzogene Straße entlangschaue, muss ich an Jakub denken. Er hat Schnee immer geliebt. Im Winter lockte er mich jedes Mal in die Wälder, wenn es geschneit hatte. Anfangs sah ich ihn dabei an, als habe er den Verstand verloren. Als Einzelkind, das ohne großen Freundeskreis in der Stadt aufgewachsen ist, hatte ich mit Schnee wenig
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