Der Kommandant und das Mädchen
auf und tippe leicht mit der Hand auf den Platz neben mir. Er nickt, kommt aber nicht herüber. Stattdessen stellt er sich vor den Kamin, woraufhin ich überlege, ob er in diesem Moment an Margot denkt. Doch er sieht nicht auf ihr Foto, sondern hat den Blick auf das Kaminfeuer gerichtet. Er scheint mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
“Weihnachten steht vor der Tür”, sagt er nach einer Weile. Es klingt, als wäre ihm das eben erst aufgefallen.
“Es sind nur noch ein paar Tage”, stimme ich ihm zu. Vermutlich hätte ich selbst nicht an Weihnachten gedacht, wäre Krysia nicht auf die Idee gekommen, das ganze Haus mit Tannenzweigen zu schmücken, die sie mit roten Schleifen verziert hat. In der Stadt, in der sonst immer alle Schaufenster festlich dekoriert werden und das Aroma von Weihnachtsleckereien in der Luft hängt, geht es in diesem Jahr praktisch schmucklos zu.
“Weihnachten wurde bei uns zu Hause immer groß gefeiert”, erzählt er. Noch während ich mich frage, ob er diese Worte an mich oder an Margot richtet, fährt er fort: “Unser Vater nahm uns jedes Jahr um Mitternacht mit auf eine Schlittenfahrt durch die Wälder, damit wir den Weihnachtsmann sehen konnten, wie er uns die Geschenke bringt.” Er kommt zum Sofa und setzt sich zu mir. “Natürlich entdeckten wir ihn nie, aber wenn wir nach Hause kamen, dann hatte er sich während unserer Abwesenheit ins Wohnzimmer geschlichen und jedem von uns wunderbare Geschenke gemacht. Und am nächsten Morgen türmten sich auf dem Küchentisch die leckersten Plätzchen.” Dabei sieht er mich mit einem fast sentimentalen Lächeln an.
“Das hört sich wunderschön an”, bemerke ich dazu und lege mir in aller Eile eine Geschichte über mein Weihnachten in der Kindheit zurecht, damit ich etwas erzählen kann, falls er mich fragt.
“Wir sollten an Weihnachten etwas Besonderes machen”, erklärt er plötzlich. “Vielleicht für ein paar Tage verreisen, nur wir beide.”
Ungläubig sehe ich ihn an. Hat er den Krieg vergessen? “Georg, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre …”
Er wird wieder ernst und erwidert rasch: “Nein, natürlich nicht.” Ich sehe, wie seine Augen abermals diesen schwermütigen Ausdruck annehmen. “Es ist dieser verdammte Krieg”, fügt er hinzu und berührt meine Wange. “Es tut mir leid, Anna. Du verdienst etwas viel Besseres.”
Da hat er wohl recht, aber nicht in der Hinsicht, die er meint. Ich verdiene es, mit meinem Ehemann zusammen zu sein. “Keineswegs”, widerspreche ich dennoch, auch wenn sich mir dabei der Magen umdreht.
“Eines Tages werde ich das wieder gutmachen”, beteuert er. “Nach dem Krieg wird für uns alles anders sein, das verspreche ich dir.”
Ich will etwas darauf erwidern, doch noch bevor ich zum Sprechen ansetzen kann, legt er die Arme um mich, drückt mich an sich und küsst mich auf eine besitzergreifende, fordernde Weise. Er hat mich so überrumpelt, dass ich für Sekunden wie erstarrt dasitze. Nach so vielen Wochen fühlt sich seine Berührung fremd und doch vertraut an. Dann merke ich, wie die Reaktion meines Körpers einsetzt und ich seinen Kuss erwidere. Trotz allem, was geschehen ist und was ich über ihn erfahren habe, kann ich mich dem Gefühl nicht entziehen, das er in mir auslöst, wenn er mich berührt.
Der Kommandant lässt seine Hände ein Stück weit herabsinken, er presst sich sanft gegen mich, sodass ich mich gegen die Lehne des Sofas zurücklege. Er lässt eine Begierde erkennen, die ich so bei ihm noch nicht erlebt habe. Es kommt mir vor, als wolle er in meinen Armen Schutz suchen. Ich löse mich von ihm und lege meine Hände an sein Gesicht. “Was ist los?”, flüstere ich. “Stimmt etwas nicht?” Aber er schüttelt nur den Kopf und küsst mich wieder.
Plötzlich wird laut an die Tür geklopft. Der Kommandant zögert und sieht mich besorgt an. Ich weiß, er erwartet niemanden, und keiner würde es wagen, unangemeldet bei ihm aufzutauchen. Er wendet sich wieder mir zu und tut so, als habe er nichts gehört. Doch dann wird ein weiteres Mal geklopft, diesmal zu laut, um es noch länger zu ignorieren.
Er setzt sich auf. “Ja?”, ruft er gereizt in Richtung Wohnungstür.
“Wichtige Nachricht, Herr Kommandant”, antwortet eine leise Männerstimme. Der Kommandant steht auf, rückt den Hemdkragen gerade und geht zur Tür. Im Treppenhaus steht ein junger Soldat, dem der Schweiß übers Gesicht läuft und der außer Atem ist. “E-entschuldigen Sie die
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