Der Kommandant und das Mädchen
verlassen. Natürlich kann sie das nicht mit Gewissheit sagen, doch allein der Gedanke, der einem fast vergessenen Wunschtraum gleichkommt, erfüllt mich mit Hoffnung. Doch wohin sollen wir gehen? Wie sollen wir unseren Lebensunterhalt verdienen? Für Wissenschaftler und Bibliothekarinnen gibt es jetzt sicher keine Stellen. Allerdings habe ich mich in der Zeit, die ich nun für den Kommandanten arbeite, zu einer guten Sekretärin entwickelt. Ich muss flüchtig lächeln, wenn ich über diese Ironie nachdenke, dass mir der Feind auch noch eine Ausbildung spendiert hat. Doch meine Belustigung macht schnell einer wachsenden Nervosität Platz. Selbst wenn wir unbehelligt sollten fliehen können, wie wird sich dann unser gemeinsames Leben gestalten? Ich will es mir eigentlich nicht eingestehen, doch als Jakub mich für den einen Tag besuchte, da gingen wir zeitweise so befangen miteinander um, als wären wir Fremde. Ich sage mir zwar, das wird sich legen, wenn wir erst wieder genug Zeit zusammen verbringen, dennoch bin ich davon nicht restlos überzeugt. Der Krieg und all seine Begleiterscheinungen haben jeden von uns zu einem anderen Menschen gemacht. Wie können wir da erwarten, dass zwischen uns alles wieder so sein wird wie früher?
Aber es gibt auch andere Gründe, die mich zögern lassen: Krysia und Łukasz. So wie ich monatelang von einer Zukunft mit Jakub träumte, so bin ich auch immer davon ausgegangen, dass die beiden weiter bei uns bleiben werden. Krysia erwähnte, Łukasz werde mich womöglich nicht begleiten können, und über ihre eigene Zukunft oder eine eventuelle Flucht hat sie gar kein Wort verloren. Für mich ist es unvorstellbar, sie beide zurückzulassen und Krysia den Fragen ausgesetzt zu wissen, die sie zweifellos über sich ergehen lassen muss, wenn ich von einem Tag auf den anderen verschwinde. Nein, ich muss Krysia überreden, dass sie und der Junge mich begleiten. Wenn sie nicht will, werde ich mich weigern, sie zu verlassen. Wir sind jetzt eine Familie.
Eine Familie. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, da ich an meine Eltern denken muss, die ich seit so langer Zeit nicht gesehen habe. Krysia versprach mir, sich nach ihnen zu erkundigen, aber an ihrem Blick konnte ich erkennen, dass sie es für ein aussichtsloses Unterfangen hielt. Doch wie kann ich aus der Stadt flüchten, wenn ich damit meine Eltern endgültig im Stich lasse?
Plötzlich bremst der Busfahrer scharf ab und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Nervöses Getuschel macht sich unter den Fahrgästen breit. In jüngster Zeit hat die Gestapo neue Kontrollpunkte auf allen wichtigen Zufahrtsstraßen zur Stadt eingerichtet. Immer wieder werden Fahrzeuge willkürlich herausgewunken und durchsucht. Ich selbst habe mitbekommen, wie man Automobile und Pferdefuhrwerke anhält, wie die Leute am Straßenrand stehen und Fragen zu ihrer Person und ihrem Fahrtziel beantworten müssen. Aber das hier ist für mich das erste Mal, dass ein Omnibus gestoppt wird. Einen Moment lang kommt mir der Gedanke, sie könnten nach mir suchen. Vielleicht hat jemand aus der Bewegung nach seiner Verhaftung zu reden begonnen. Doch dann halte ich mir vor Augen, wie albern diese Überlegung ist. Wenn die Gestapo mich festnehmen wollte, könnte sie das jeden Tag in meinem Büro oder bei Krysia zu Hause tun. Es ist nur eine Routinekontrolle.
Zwei Gestapo-Leute steigen in den Bus ein und brüllen uns an, wir sollen aussteigen. Hastig greift jeder nach seiner Tasche und befolgt diese Anweisung. Ich vermeide jeden Blickkontakt mit den Männern, als ich an ihnen vorbeigehe. Draußen stehen zwei weitere Gestapo-Leute, jeder von ihnen hat einen großen Hund an der Leine. Ich stelle mich in die Gruppe der anderen Fahrgäste, die Deutschen durchsuchen unterdessen den Bus. Keiner von uns sagt ein Wort, während wir in der Kälte ausharren. Zehn Minuten verstreichen, dann fünfzehn. Ich werde zu spät zur Arbeit kommen und kann mir lebhaft vorstellen, wie der Kommandant zur Uhr schaut, ungeduldig im Büro auf und ab geht und sich wundert, wo ich bleibe. Einen Moment lang erwäge ich, die Gruppe zu verlassen und das letzte Stück bis zur Wawelburg zu Fuß zurückzulegen. Das ginge viel schneller, als darauf zu warten, dass man uns endlich weiterfahren lässt. Doch ich entscheide mich dagegen, da ich keine Aufmerksamkeit auf mich lenken möchte.
Zwanzig Minuten verstreichen, dann endlich verlassen die Männer den Bus und geben uns das Zeichen, wieder einzusteigen.
Weitere Kostenlose Bücher