Der Kommandant und das Mädchen
können. Schnell bringe ich mich hinter einer der stählernen Säulen in Sicherheit, und nur Sekunden später taucht an der Brückenauffahrt ein deutscher Lastwagen auf. Im Führerhaus kann ich nur einen Mann ausmachen, der in Richtung Ghetto unterwegs ist. Ich bleibe im schützenden Schatten stehen, presse mich gegen die Säule und wage nicht mal zu atmen. Der Lastwagen fährt quälend langsam vorbei, und ich kann nur beten, dass er nicht anhält. Nach einer scheinbaren Ewigkeit verschwindet das Fahrzeug jenseits der Brücke im Dunkel der Nacht.
Ich atme erleichtert aus, da ich wenigstens für den Augenblick in Sicherheit bin. Noch immer stehe ich gegen die Säule gepresst da und vergrabe die Hände in meinen Manteltaschen. Meine Finger berühren die Heiratsurkunde, und ich schließe meine Hand um das zusammengefaltete Stück Papier. Dabei kann ich die darin eingewickelten Ringe ertasten. Ich hätte diese Dinge gar nicht erst an mich nehmen dürfen. Zumindest sollte ich sie aber jetzt noch loswerden, immerhin könnte ich unterwegs von den Deutschen angehalten werden. Ich stelle mir vor, wie ich diese drei Dinge in den Fluss unter mir werfe und die Ringe im Wasser versinken, gefolgt von der Urkunde. Jakub würde mein Handeln verstehen, ja, ihm sogar zustimmen. Immerhin hat er mich in der Nacht vor seinem Verschwinden selber angehalten, diese Sachen verschwinden zu lassen. Aber ich kann mich einfach nicht von ihnen trennen. Sie sind das Letzte, was mich noch mit ihm verbindet. Sie sind das Versprechen, dass wir eines Tages wieder zusammen sein werden.
Ich schaue über das Brückengeländer nach unten und muss erkennen, dass ich meine Absicht nicht in die Tat umsetzen kann, selbst wenn ich es wirklich wollte. Der Fluss ist zugefroren und kann damit meinen Geheimnissen kein sicheres Versteck bieten. Das Papier würde vom Wind erfasst und fortgeweht werden. Nein, ich habe diese Dinge von meinem Vater angenommen, sie sind jetzt ein Teil von mir.
Ich bleibe noch minutenlang im Schutz der Säule stehen, da ich Angst habe, mich von der Stelle zu rühren und entdeckt zu werden. Aber ich muss weiter. Krysia wird bald aufwachen und sich fragen, wo ich bleibe. Ich lausche aufmerksam, kann jedoch keine verdächtigen Geräusche hören. Mein Blick wandert nach links und rechts, die Brücke ist menschenleer, dennoch verlasse ich nur zögerlich den schützenden Schatten. Bei jedem meiner kleinen, schnellen Schritte zittern meine Knie, und ich habe Angst, dass meine Beine mir den Dienst versagen. Nur noch ein paar Meter. Ich kann schon das Ende der Brücke sehen, die schützenden Schatten am Ufer rufen mich zu sich. Gleich habe ich es geschafft.
Plötzlich höre ich hinter mir ein lautes Motorengeräusch vom anderen Ende der Brücke.
Der Lastwagen
, denke ich und fühle Panik in mir aufsteigen. Der Fahrer hat mich gesehen und gewendet. Ich überlege, ob ich erneut hinter einer der Säulen Schutz suchen soll, aber ich habe bereits zu lange gezögert. Der Motor des Wagens wird abgestellt, eine Tür geht auf. “Halt!”, ruft eine Männerstimme. “Halt!”
Mir gefriert das Blut in den Adern. Ich kenne diese Stimme – das ist der Kommandant!
“Hände hoch”, befiehlt er. Seine schweren Schritte werden lauter, als er die Brücke überquert. Ich gehorche, während ich fieberhaft überlege, was er hier zu suchen hat. Er sollte doch im Bett liegen und fest schlafen. Die Wirkung des Schlafpulvers muss zu früh nachgelassen haben. Vermutlich habe ich doch nicht genug genommen. Aber woher weiß er, dass ich hier bin? Ist er mir zum Ghetto gefolgt? Ich höre, wie er näher kommt. Keinen Meter von mir entfernt bleibt er stehen und brüllt seinen Befehl: “Umdrehen!”
Da wird mir klar, dass er nicht weiß, dass ich es bin. Er hält mich für eine Polin, die die Ausgangssperre missachtet hat. Ich überlege, ob ich mich ihm zu erkennen geben soll, doch sosehr ich mich auch anstrenge, mir will kein plausibler Grund einfallen, warum ich mitten in der Nacht hier unterwegs bin. “Umdrehen!”, wiederholt er. Aus seiner Stimme höre ich die vertraute Ungeduld heraus. Ich atme tief durch, dann drehe ich mich zu ihm um, halte aber den Kopf gesenkt, sodass der Schal mein Gesicht verdeckt. Ich sehe den Kommandanten dicht vor mir stehen, er hat seine Waffe gezogen.
“Fräulein, was machen Sie hier allein in der Nacht?” Der Kommandant spricht nun ein wenig sanfter, da er sieht, dass er es mit einer Frau zu tun hat. “Ist Ihnen nicht bekannt,
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