Der Kommandant und das Mädchen
erfuhren schon bald, dass Jakub und deine Freunde dich rausgeholt haben und es dir gut geht. Wir waren froh darüber. Deine Mutter verstand, warum du gehen musstest. Ich habe es auch verstanden.”
Wieder muss ich laut schluchzen, ohne mich darum zu kümmern, in welcher Gefahr ich eigentlich schwebe. Mein Vater sieht mich hilflos an und ringt mit seiner eigenen Trauer. “
Yisgadal, v yiskadash shmay rabah …”
, beginnt er das
Kaddish
des Trauernden auf Hebräisch zu singen. Mit den Tränen kämpfend stimme ich ein. Es ist das jüdische Gebet für die Toten, das den Tod nicht erwähnt, sondern Gott lobt. Ich frage mich, wie oft mein Vater dieses Gebet in den letzten Nächten aufgesagt hat.
Ich atme tief durch, um meine Fassung wiederzuerlangen. “Wir müssen dich hier rausholen”, sage ich aufgeregt. “Ich komme in einer Stunde mit Papieren wieder und …” Doch er schüttelt den Kopf. Wir wissen beide, dass das unmöglich ist. Niemand kommt in diesen Tagen aus dem Ghetto heraus. Außerdem würde mein Vater den Marsch durch die Wälder gar nicht überleben.
Nein, ich kann ihn nicht herausholen. Aber ich will ihm etwas geben, was bei ihm bleiben wird, wenn ich längst gegangen bin. “Tata, ich werde ein Kind bekommen.” Verwirrt sieht er mich an. “Jakub konnte uns im letzten Herbst einmal besuchen”, füge ich schnell hinzu. Natürlich erwähne ich nicht, dass es vielleicht nicht das Kind meines Ehemanns ist. In diesem Moment ist dieser Punkt unwichtig.
Er lächelt schwach. “
Mazel tov
, mein Schatz.” Doch sein Gesicht hat einen schmerzlichen Ausdruck, da er an das Enkelkind denkt, das er nie zu sehen bekommen wird. Dennoch weiß er nun, dass seine Familie weiter existieren wird. Meine Worte bereiten ihm Schmerz, zugleich aber sind sie ein wunderbares Geschenk.
“Wenn es ein Mädchen wird, bekommt es Mamas Namen”, füge ich hinzu.
“Emmala”, flüstert er. Ich bekomme eine Gänsehaut, weil es so lange her ist, dass ich ihn zum letzten Mal meinen Kosenamen sagen hörte. Es fühlt sich so gut an, als hätte mir in dieser eisigen Nacht jemand eine warme Decke um die Schultern gelegt. Dann fällt mir wieder sein hilfloser Blick auf. Es ist der Blick eines Vaters, der erkennt, was er seinem Kind nicht geben kann. Schuldgefühle, weil er mich nicht besser beschützen konnte. Doch plötzlich verändert sich dieser Ausdruck. “Warte hier”, sagt er. “Warte genau hier.”
Bevor ich etwas erwidern kann, ist er verschwunden. Ich drücke mich gegen die Mauer und warte. In der Dunkelheit sehe ich das Gesicht meiner Mutter vor mir. Hat Krysia es längst gewusst? Hat sie mich belogen und behauptet, meinen Eltern gehe es gut, weil ihr klar war, dass ich andernfalls nicht fortgehen würde? Einige Zeit vergeht, bis ich wieder die schlurfenden Schritte meines Vaters höre.
“Hier.” Er steckt die Hand durch die Maueröffnung und gibt mir drei Dinge: meinen Ehe- und meinen Verlobungsring, die ich beide vor langer Zeit unter meiner Matratze versteckt habe, und ein Stück Papier. Als ich es auseinanderfalte, stockt mir der Atem. Es ist meine Heiratsurkunde.
Ich zögere, diese drei Dinge anzunehmen. Früher einmal hätten sie mir alles bedeutet, doch jetzt sehe ich nur die mit ihnen verbundene Gefahr. Wenn man mich zu fassen bekommt, werden sie meine wahre Identität offenlegen. Aber ich schaue meinen Vater an und sehe, welches Leuchten in seinen Augen liegt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Sachen anzunehmen.
“Danke.” Ich wickele die Ringe in das Papier ein und stecke das Päckchen in meine Tasche.
Mein Vater nickt zufrieden, weil er mir wenigstens dies geben konnte. “Und wenn du Jakub siehst, richte dem Jungen aus, dass dein Vater gesagt hat, er soll dich nie wieder allein lassen.”
“Das verspreche ich dir.”
Er nickt nachdrücklich. “Und sag Jakub, der politische Unsinn hat jetzt ein Ende. Er muss meinen Enkelsohn erziehen.” Voller Erstaunen fällt mir auf, dass mein Vater seine spröden Lippen zu einem flüchtigen Lächeln verzieht. Sogar jetzt, in unserer finstersten Stunde, hat er nicht seinen Humor verloren.
“Dein Enkelsohn”, wiederhole ich und versuche verzweifelt, ebenfalls zu lächeln. “Ich wusste, du wolltest immer einen Jungen haben.”
Als er daraufhin den Kopf schüttelt, ist er wieder ernst. “Ich wollte dich. Du bist mein Ein und Alles.”
Ich muss mit den Tränen kämpfen. “Und du meines”, erwidere ich. “Aber, Tata, das Ghetto …”
“Ja
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