Der Kommandant und das Mädchen
…” Er weiß, was ich sagen will. Auch er kennt die Gerüchte von der Auflösung des Ghettos. Nachdem er zwei schreckliche
akcjas
miterlebt hat, weiß er, was vor ihm liegt und welcher Schrecken ihn erwartet. Doch seine Augen lassen keine Angst erkennen. “Der Herr ist mein Hirte”, murmelt er nur. Von seinem schmalen, ausgemergelten Gesicht geht ein Strahlen aus, und mir wird bewusst, dass ich einen Mann vor mir sehe, der vom absoluten Glauben erfüllt ist. Ich muss an die Tage denken, die er in der winzigen Remuh-Synagoge in der ulica Szeroka verbrachte, um seine Gebete zu singen. Ich denke an die brennenden Kerzen und den gesegneten Wein. Ich weiß, selbst im Ghetto hat er in den langen Nächten immer wieder den dreiundzwanzigsten Psalm rezitiert. Und doch muss ich mich wundern, woher er diese Ruhe nimmt. Vielleicht ist er schon so lange auf Gottes Pfad gewandelt, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Menschen keine Angst kennt. Oder aber er hat so viel verloren, dass es nichts mehr gibt, was man ihm noch nehmen könnte. Wahrscheinlich weiß er, dass meine Mutter am Ende dieses Pfads auf ihn wartet.
“Geh jetzt”, drängt er.
“Ich kann dich nicht noch einmal verlassen”, widerspreche ich. “Das werde ich nicht machen.”
Er schüttelt den Kopf. “Das musst du aber.”
Darauf kann ich nichts entgegnen. Ich weiß, er hat recht. Ich kann ihn nicht befreien, und je länger ich hierbleibe, umso eher bedeutet es für uns beide den Tod. Dennoch rühre ich mich nicht von der Stelle. Ich will mich an dieser letzten Seite des Buchs meiner Kindheit festhalten, ein Buch, das sich bald für immer schließen wird. Ich drücke meinen Kopf durch das Loch in der Mauer, die schroffen Kanten kratzen über Wangen und Stirn. Mein Vater versucht mich zurückzuhalten, weil er nicht riskieren möchte, dass ich oder mein ungeborenes Kind sich mit den Krankheiten infizieren, die im Ghetto grassieren. Dennoch strecke ich den Arm aus und ziehe meinen Vater zu mir. Nur mit Mühe kann ich mit den Lippen die papierne Haut seiner Wangen berühren.
“Ich habe dich lieb, Tata.”
“Möge Gott mit dir sein, mein Schatz.”
Für ein paar Sekunden kann ich seine Finger noch festhalten, dann zieht er sich zurück und zwingt sich dazu, sich von mir abzuwenden. Ich sehe ihm nach, wie er sich entfernt, und bin dankbar dafür, dass er als Erster gegangen ist. Ich weiß, ich hätte das nicht gekonnt. Reglos stehe ich da und schaue ihm hinterher, bis er in die Dunkelheit des Ghettos eintaucht und verschwunden ist. Schließlich greife ich ein letztes Mal durch die Öffnung in der Mauer, doch auf der anderen Seite ist nur noch Leere. Dann ertrage ich es nicht länger, wende mich von der Mauer ab und renne davon.
24. KAPITEL
N achdem ich das Ghetto hinter mir gelassen habe, kann ich mich wieder darauf konzentrieren, wie ich am sichersten zu Krysias Haus gelange. Ich überlege, ob ich den Wald durchqueren soll, um Zeit zu sparen, doch dann erinnere ich mich an Gespräche, die ich in der Burg mitbekommen habe. Demnach wissen die Deutschen schon seit Langem, dass die Wälder rings um Podgorze von Flüchtlingen genutzt werden, die aus der Stadt entkommen wollen. Seit dem Attentat wimmelt es dort von Scharfschützen, die auf alles schießen, was sich bewegt. Nein, ich muss mein Glück versuchen, indem ich den Weg zurück durch die Stadt nehme.
An der Eisenbahnbrücke angekommen, gehe ich so leise wie möglich die Treppe nach oben, doch es kommt mir vor, als würden meine Schritte einen schrecklichen Lärm machen. Am Kopf der Treppe bleibe ich stehen und beobachte kritisch den langen Weg, der neben den Gleisen über die Brücke führt. Zwar ist weit und breit kein Mensch zu sehen, doch der Vollmond taucht alles in ein gleißendes Licht. Das gegenüberliegende Ufer scheint mir Welten entfernt zu sein. Ich lege den Schal um meinen Kopf und will losgehen, doch in diesem Moment weht mir ein kräftiger, eiskalter Wind entgegen, sodass ich mich in extrem gebückter Haltung voranbewege. Dabei presse ich das Kinn gegen meine Brust, damit der Schal nicht weggerissen wird. Mein Blick ist auf den Boden gerichtet, da ich auf glatte Stellen und Unebenheiten zwischen den Metallplatten achten muss.
Plötzlich höre ich aus der Ferne ein Motorengeräusch. Am rettenden Ufer nähert sich ein Fahrzeug der Brücke! Mir stockt der Atem. Jemand ist auf dem Weg hierher! Ich habe fast die Brückenmitte erreicht und bin damit bereits zu weit, um noch umkehren zu
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