Der Kommandant und das Mädchen
dass Sie gegen die Ausgangssperre verstoßen?” Ich schüttele minimal den Kopf, da ich nichts sagen will. Wenn er meine Stimme hört, wird er mich sofort erkennen. Er lässt die Waffe ein Stück weit sinken und streckt seine freie Hand aus. “Ihre Papiere bitte.”
O Gott, nein! Was soll ich jetzt machen? “Papiere!”, fordert er mich auf und zeigt sich erneut ungeduldig. In der Hoffnung, ein wenig Zeit zu schinden, greife ich langsam in meine Tasche und tue so, als würde ich nach meinen Papieren suchen. Dabei ertasten meine Finger abermals die zerknitterte Heiratsurkunde und die beiden Ringe, die mein Vater mir mitgegeben hat. Wenn ich meine Papiere nicht vorzeige, wird man mich verhaften und durchsuchen – und dabei auf diese Dinge stoßen. Dann bekomme ich meinen Ausweis zu fassen, der mich als Anna Lipowski identifiziert. Ich halte inne und überlege, ob ich mich dem Kommandanten zu erkennen geben soll. Wenn mir eine überzeugende Ausrede einfällt, was ich tief in der Nacht auf dieser Brücke zu suchen habe, und ich es mit dem richtigen Tonfall und Lächeln erzähle, glaubt er mir vielleicht.
Ich hebe den Kopf ein wenig, um seinen Gesichtsausdruck beurteilen zu können. Dabei löst sich der Schal um meinen Hals, und in der Dunkelheit blitzt etwas auf: die Halskette, die der Kommandant mir geschenkt hat.
Er stutzt. “Anna?”, fragt er. Er hat das Schmuckstück wiedererkannt.
“Ja, Herr Kommandant”, antworte ich leise. Ich bin zu nervös, um ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. “Ich bin es.”
Er lässt den Revolver sinken und zieht meinen Schal zur Seite. “Warum hast du nicht gesagt, dass du es bist? Wieso bist du um diese Uhrzeit hier unterwegs?”
“Ich kann es erklären.” Sein Blick ruht erwartungsvoll auf mir. “Ich … ich …”, stammele ich.
“Warum bist du fortgegangen?”, will er wissen. “Ich war voller Sorge, als ich aufwachte und feststellte, dass du nicht mehr da bist.”
“Es tut mir leid, ich … ich wollte diese letzte Nacht lieber in Krysias Haus verbringen.” Ich mustere sein Gesicht, kann ihm aber nicht ansehen, ob er mir diese Erklärung abnimmt. “Mir hat Łukasz gefehlt”, füge ich noch hinzu.
“Das hättest du mir sagen können, Anna. Ich hätte dafür Verständnis gehabt und dich von Stanislaw nach Hause fahren lassen. Du solltest nicht nachts allein auf der Straße unterwegs sein. Man hätte dich verhaften oder sogar erschießen können. Anna, das war sehr riskant.”
“Ich weiß”, erwidere ich. “Es tut mir leid.”
Er sieht zum Ende der Brücke und späht in die Dunkelheit. “Aber das ist nicht alles, oder?”, fragt er.
Mir wird angst und bange. “I-ich verstehe nicht, was du meinst …”
“Das ist nicht der einzige Grund, weshalb du hier bist, nicht wahr?”
Er weiß es
, schießt es mir durch den Kopf. Ich bin wie gelähmt und bekomme keinen Ton heraus. Er weiß alles. “Du wolltest davonlaufen”, sagt er und sieht mich wieder an.
“Nein”, entgegne ich hastig. “Ich meine …”
“Das ist nicht schlimm”, meint er beschwichtigend, was mich überrascht aufblicken lässt. “Ich kann das verstehen.”
“Wirklich?”
“Ja”, fährt er mit sanfter Stimme fort. “Das muss für dich alles sehr beängstigend sein – dass du ein Kind bekommst, dass du Kraków verlässt. Da ist es doch nur natürlich, wenn du in Panik gerätst.”
Unendlich erleichtert wird mir klar, dass er die Wahrheit doch nicht kennt. “Es ist beängstigend”, bestätige ich seine falsche Annahme. “Ich habe schreckliche Angst.”
“Dann wolltest du also wirklich davonlaufen …” Wieder suchen seine Augen die Dunkelheit hinter mir ab. “Wohin wolltest du?”
“Das weiß ich selbst nicht.” Wachsam beobachte ich seine Miene, während er sich unsere Unterhaltung durch den Kopf gehen lässt. Ich frage mich, ob er mir glaubt. “Bist du mir böse?”, will ich von ihm wissen.
“Nein”, entgegnet er prompt und nimmt meine Hand. “Als ich aufwachte und du nicht mehr da warst, bekam ich ein Gefühl dafür, was in dir vorgehen muss. Darum machte ich mich auf die Suche nach dir. Ich wollte dich sehen und dir versichern, dass alles gut ausgehen wird.”
“Oh …” Was soll ich ihm darauf antworten? Ich weiß es nicht.
“Anna …” Er beugt sich vor und hebt mein Kinn behutsam an. “Du musst keine Angst mehr haben. Ich werde alles tun, was nötig ist, damit du dich sicher fühlst. Wenn du willst, gebe ich noch heute Nacht meinen Posten auf,
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