Der Kommandant und das Mädchen
ihm ansehen kann, dass er mich wiedererkannt hat. Langsam kommt er auf mich zu.
“Shana madela”
, keucht er auf Jiddisch und streckt eine knochige Hand durch das Loch in der Mauer. “Hübsches Mädchen” hat er mich genannt. In all den Monaten, die ich ihn nicht gesehen habe, ist er um Jahre gealtert. Sein Kopf erinnert eher an einen Totenschädel, so sehr besteht er nur noch aus Haut und Knochen. Von seinem Bart sind ein paar Büschel übrig, und die wenigen Zähne, die ihm geblieben sind, ragen auf eine groteske Weise aus seinem eingefallen Mund hervor.
“Tata, was …?”, beginne ich und breche gleich wieder ab. So viele Fragen kommen mir in den Sinn, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.
“Ich gehe hier spazieren”, sagt er, als würde das alles erklären. Ich erinnere mich an den rasenden Hunger, der mich manchmal im Ghetto in der Nacht überkam und sich wie eine Klinge durch meinen Magen bohrte. Diese Schmerzen sind so entsetzlich, dass man keinen Schlaf finden kann.
“Hier.” Ich hole den Beutel aus der Tasche, in dem sich das Essen aus der Wohnung des Kommandanten befindet. “Es ist nicht koscher, aber …” Er nimmt den Beutel an sich und hält ihn, als sei ihm gar nicht bewusst, dass ich ihm etwas gegeben habe. Ich bekomme einen Schreck, etwas stimmt nicht. “Mama …?”, frage ich, obwohl ich seine Antwort eigentlich gar nicht hören will. Meine Mutter hätte ihn niemals nachts aus dem Haus gelassen. Und sie hätte auch nicht zugelassen, dass er in einem solchen Zustand auf die Straße geht, schießt es mir durch den Kopf.
“Vor zehn Tagen”, sagt er, wobei sich seine Augen in leere, finstere Höhlen zu verwandeln scheinen.
“Was?” Wieder will ich lieber keine Antwort auf meine Frage bekommen. Dann fällt mir auf, dass sein Hemd zerrissen ist, so wie nach dem jüdischen Trauerritual. “Nein …”
“Sie ist tot”, bringt er mit Mühe heraus, Tränen steigen ihm in die Augen.
“Nein!”, rufe ich laut aus, ohne daran zu denken, dass mich jemand hören könnte. Plötzlich bin ich wieder fünf Jahre alt und liege mit Grippe in meinem Bett in unserer Wohnung in Kazimierz. Wenn ich krank war, schlief meine Mutter immer bei mir. Sie rieb mir die Brust mit Salbe ein, kochte mir Suppe und sang mir Lieder vor. “Mama …”
Mein Vater sieht mich hilflos und mit gequälter Miene durch das Loch in der Mauer an. Er ertrug es nie, wenn ich als Kind zu weinen begann. Die Vorstellung, dass mir etwas fehlt und er nichts dagegen unternehmen kann, war für ihn stets unerträglich. Ich weiß, meine Trauer ist für ihn schlimmer auszuhalten als seine eigene. “Letzten Herbst wurde sie krank und hatte schreckliches Fieber.”
“Ich weiß”, erwidere ich schluchzend. “Ich habe versucht, ihr Hilfe zukommen zu lassen.” Ich bringe es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass die Bewegung jede Hilfe verweigert hat. “Krysia wollte etwas unternehmen.”
“Sie schickte uns Pankiewicz, den Apotheker. Der gute Mann war ein Geschenk Gottes. Er versuchte alles, was in seiner Macht stand. Doch diese Krankheit hatte er noch nie gesehen. Sie war für uns alle ein Rätsel. Trotzdem ließ das Fieber nach und es ging ihr wieder besser. Aber dann kam der Winter und … nun, vor ein paar Wochen kehrte das Fieber zurück.”
Ich schlucke und bekomme mein Schluchzen ein wenig in den Griff. “Hatte sie ihren Frieden? Am Ende, meine ich.”
Mein Vater zögert. “Sie schlief friedlich ein”, antwortet er bedächtig, doch seine Miene verrät mir, dass sie sehr gelitten haben muss. “Sie war stark und tapfer. Und ich war die ganze Zeit bei ihr …”
“Ich hätte bei ihr sein sollen”, bringe ich hervor, dann versagt meine Stimme.
Er schüttelt den Kopf. “Sie hat es verstanden. Sie wollte nur die Gewissheit, dass du in Sicherheit bist.” Dennoch bin ich untröstlich. Ich muss an meine Mutter denken, wie ich sie in der Nacht zum letzten Mal sah, als ich aus dem Ghetto geholt wurde. Ich habe mich nicht von ihr verabschieden können, nicht mal auf jene beiläufige Art, wie ich es früher machte, wenn ich zur Bäckerei oder in die Bibliothek ging und wusste, dass ich bald wieder zurück bin. Nein, ich war mitten in der Nacht aus ihrem Leben verschwunden, und nun war sie aus meinem Leben gegangen.
“Es tut mir leid, dass ich euch verlassen habe.”
“Nein, nein!”, protestiert er sofort. “Natürlich waren wir in Sorge um dich, als wir am Morgen erwachten und dein Bett leer war. Aber wir
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