Der Kommandant und das Mädchen
dann können wir gemeinsam weglaufen.”
“Georg …” Seine Worte machen mich sprachlos.
“Das ist mein Ernst. Dein Glück ist das Einzige, was mir wichtig ist.”
Ich antworte nicht darauf. Meine Gedanken überschlagen sich, zu viel habe ich in zu kurzer Zeit erlebt. Eben noch dachte ich, meine Tarnung sei aufgeflogen, und jetzt schwört mir der Kommandant bereits seine Liebe. Aufgewühlt schaue ich ihn an. Dieser Mann, der so viele unschuldige Menschen auf dem Gewissen hat, gesteht mir seine bedingungslosen Gefühle, für die er alles aufzugeben bereit ist. Nein, so ganz bedingungslos sind sie nicht, fällt mir in diesem Moment wieder ein. Meine Identität ist eine Bedingung. Ich weiß, er liebt Anna, eine Frau, die in Wirklichkeit gar nicht existiert. Oder existiert sie vielleicht doch? Mein Gesicht und meine Stimme, meine Worte und meine Berührungen haben seine Gefühle für Anna geweckt, Gefühle, die womöglich ehrlicher sind als alles, was mir je von einem Mann entgegengebracht wurde.
Plötzlich kommen mir die Tränen, und ich muss laut schluchzen. Der Kommandant kommt näher und legt seine Arme um mich. “O Anna, du musst dir keine Sorgen machen.”
“Es tut mir leid”, flüstere ich mit erstickter Stimme.
“Hör auf”, erwidert er leise und streicht mir übers Haar. “Du musst dich für nichts entschuldigen. Und hör auf zu weinen. Lass uns lieber nach vorn schauen, einverstanden?”
Ich nicke, gehe einen Schritt zurück und wische die Tränen fort. “Einverstanden.” Ich greife nach einem Taschentuch in die Manteltasche, doch dabei ziehe ich zugleich die Heiratsurkunde mit den Ringen heraus. Hastig versuche ich noch, sie zurück in die Tasche zu schieben, aber es ist zu spät. Die Ringe landen mit einem viel zu lauten Klimpern auf der Stahlplatte zu meinen Füßen, das Papier sinkt langsam hinterher. Unwillkürlich stoße ich einen erschreckten Laut aus.
“Dir ist etwas hingefallen”, sagt der Kommandant und will sich bücken.
“Nein!”, rufe ich entsetzt, knie mich hin und versuche in Panik, alles an mich zu nehmen.
Doch er kommt mir zuvor. “Was ist das?”, fragt er und betrachtet im Mondschein die Urkunde und die Ringe. Ich erwidere nichts. “Eheringe?” Er überfliegt den Text, während ich ein Stoßgebet zum Himmel schicke und hoffe, dass er das in Hebräisch verfasste Dokument nicht entziffern kann. Die Illustrationen am Blattrand genügen jedoch, um die Bedeutung der Worte auch so zu verstehen. “Eine jüdische Heiratsurkunde? Was soll das?” Sekundenlang ist seine Verwirrung größer als seine Wut, doch das liegt nur daran, dass er den Zusammenhang noch nicht erfasst hat. Er versteht noch immer nicht – oder vielleicht will er nicht verstehen. Das ist meine Chance, zu retten, was noch zu retten ist.
“Ich … ich …” Verzweifelt versuche ich, mir eine plausible Erklärung einfallen zu lassen. Krysia könnte mich gebeten haben, die Ringe ins Pfandhaus zu bringen, weil wir das Geld benötigen. Doch das würde das Dokument nicht erklären. “Es ist von einer Freundin”, bringe ich schließlich heraus.
Er schnalzt mit der Zunge und hält die Urkunde hoch, um sie im schwachen Licht besser lesen zu können. “Solche Freundinnen hast du, Anna? Ich wusste, Krysia war vor dem Krieg den jüdischen Künstlern zugetan, aber …” Mitten im Satz verstummt er, da er in diesem Augenblick zu der Erkenntnis kommt, vor der ich mich gefürchtet habe. “Krysia war mit einem Juden verheiratet …” Er lässt seinen Arm sinken, das Papier hält er weiter fest. “Bist du eine Jüdin?”
“Ich kann …”, setze ich an, doch er fährt mir sofort über den Mund.
“Ob du eine Jüdin bist, habe ich dich gefragt! Ja oder nein?”
Ich atme tief durch, dann antworte ich: “Ja.”
Er geht einen Schritt zurück und wirkt, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. “Georg … lass mich bitte erklären …”
“Da gibt es nichts zu erklären, du bist eine Jüdin.” Er weicht meinem Blick aus.
Sie ist auch eine Jüdin
, kann ich ihn fast denken hören.
So wie Margot.
Ich sehe auf seine Waffe, die er inzwischen auf den Boden gerichtet hält. Ich könnte wegzulaufen versuchen, solange er den Schock noch nicht überwunden hat, aber dann tue ich es doch nicht. Wieder schaut er zu mir. “Ich verstehe nicht, wie …”
Mir ist klar, dass ich besser den Mund halten und ihm nichts weiter erzählen sollte, doch ein Teil von mir glaubt, dass er Mitgefühl zeigen könnte, wenn
Weitere Kostenlose Bücher