Der Kommandant und das Mädchen
einem Neubeginn ihn nicht erweichen können, dann wird Bitten und Betteln auch nichts bewirken. Ich sehe zum anderen Ende der Brücke, das endlos weit entfernt ist – zu weit, als dass ich mich in Sicherheit bringen könnte.
Instinktiv lege ich einen Arm beschützend über meinen Bauch und entschuldige mich bei meinem Kind, dass es niemals die Chance bekommen wird, zu leben. Ich schließe die Augen und denke an all die tapferen Menschen, die ich liebe: meine Eltern, Krysia, Łukasz, selbst Alek. Und dann Jakub. “Hab keine Angst”, höre ich ihn flüstern. Fast kann ich fühlen, wie er meine Hand drückt.
Ich höre ein Klicken, als der Kommandant seine Waffe spannt. Jetzt schlage ich die Augen auf, denn ich will den letzten Moment meines Lebens bewusst erfahren. Der Kommandant steht vor mir, die Pistole ist auf mein Herz gerichtet. “Leb wohl, Anna”, flüstert er. Tränen strömen ihm über die Wangen. Ich kann es nicht mitansehen und kneife die Augen wieder zu.
Ein Schuss fällt, dann ein zweiter. Ich muss bereits tot sein, da ich nichts fühle. “Emma!” Ich höre, wie in der Dunkelheit eine vertraute Stimme meinen Namen ruft. Als ich die Augen öffne, stelle ich fest, dass ich doch nicht tot bin. Der Kommandant hat sich von mir abgewandt und feuert anscheinend blindlings in die Schwärze der Nacht. Er steht wie erstarrt da, den Arm hoch in die Luft erhoben wie bei einer Marionette, die Augen weit aufgerissen. Die Vorderseite seiner Uniformjacke ist dunkel verfärbt, als wäre der Stoff nass geworden. Plötzlich fällt er zu Boden.
“Georg!”, rufe ich erschrocken und laufe zu ihm. Ich knie neben ihm nieder und frage mich, ob er etwa seine Waffe gegen sich selbst gerichtet hat. Er greift nach meiner Hand. “Beweg dich nicht”, sage ich zu ihm und sehe mich verzweifelt um. “Ich hole Hilfe.” Doch auch wenn mir diese Worte über die Lippen kommen, weiß ich längst, dass das völlig unmöglich ist. Wenn ich die Polizei alarmiere, wird man mich festnehmen. Ich kann nicht mein Leben aufs Spiel setzen, um seines zu retten.
Der Kommandant schüttelt schwach den Kopf und muss husten. “Dafür ist es zu spät. Bleib bei mir, Anna”, sagt er und benutzt wieder meinen falschen Namen, als wolle er bis zuletzt daran glauben, dass ich nicht Emma bin. “So ist es besser.”
“Sag so etwas nicht!” Ich schiebe eine Hand unter seinen Kopf und hebe ihn leicht an. Sein Gesicht ist kreideweiß. “Es wird alles wieder gut werden. Wir müssen dich nur ins Krankenhaus bringen.”
“Nein, ich will nicht, dass es so weitergeht. Wenn wir nicht zusammen sein können …”
“Das können wir doch”, beharre ich. Seine Schusswunden bluten jetzt noch stärker, der Schnee unter ihm verfärbt sich tiefrot.
Er drückt meine Hand. “Es tut mir so leid. Ich liebe dich, ich hätte dir nie wehtun können.”
“Ich weiß”, flüstere ich, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Margot hatte er ebenfalls geliebt, und bei ihr war das auch nicht genug gewesen.
“Ich liebe dich”, wiederholt er.
“Ich liebe dich”, entgegne ich. Als ich diese Worte zum ersten Mal ausspreche, wird mir bewusst, dass sie zumindest zu einem Teil der Wahrheit entsprechen. Ich streiche sein Haar aus der schweißnassen Stirn.
“Anna”, wispert er, seine Lider beginnen zu flattern, dann ist sein Blick mit einem Mal leer.
“Nein!”, rufe ich und drücke meine Stirn auf seine. Ich verharre in dieser Haltung, weil ich hoffe, seinen warmen Atem auf meiner Haut zu fühlen, doch da ist nichts mehr. Ich lege die Lippen auf seine Augenlider, um sie mit einem sanften Kuss zu schließen. Sein Gesicht wirkt jetzt ganz ruhig. In diesem Moment weiß ich, dass der Kommandant nicht mehr lebt.
25. KAPITEL
I ch knie neben dem leblosen Kommandanten und bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. “Emma”, höre ich hinter mir jemanden rufen. Es ist die gleiche Stimme wie zuvor, als die Schüsse durch die Nacht peitschten. Dann habe ich sie mir also nicht nur eingebildet. Irgendjemand außer dem toten Kommandanten und mir ist noch hier. Der Kommandant war nicht allein unterwegs, überlege ich, springe auf und schaue in die Richtung, aus der er gekommen ist. Doch da ist niemand. “Emma.” Augenblick mal. Wäre es jemand, der den Kommandanten begleitet hat, dann würde er meinen wahren Namen nicht kennen. “Emma.” Ich drehe mich um und mache im Schatten eine Gestalt mit einer Waffe in der Hand aus. Es ist Marta.
“Marta?”, rufe ich und laufe zu
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