Der Kommandant und das Mädchen
Maschen aufribbeln und von vorn anfangen müssen.
“Unsinn, dir fehlt nur die Übung.” Sie nimmt Nadeln und Wolle an sich. “Wenn du es lernst, kannst du etwas für Jakub stricken.”
“Jakub”, wiederhole ich und stelle mir sein Gesicht vor. Ich könnte ihm einen Pullover stricken, vielleicht einen braunen, der die Farbe seiner Augen betont. Ich male mir aus, wie er den Pullover über die schmalen Schultern und den mageren Oberkörper zieht. In meiner Erinnerung kommt er mir zerbrechlich vor, fast so wie ein Kind. Es fällt mir schwer, in ihm einen Widerstandskämpfer zu sehen. Plötzlich frage ich mich, ob er genug warme Kleidung mitgenommen hat, als er wegging.
“Er fehlt dir, nicht wahr?”, fragt Krysia mit sanfter Stimme.
“Ja, sehr sogar”, erwidere ich und zwinge mich, das Bild von ihm aus meinen Gedanken zu verdrängen. Ich kann es mir jetzt nicht leisten, mich in Erinnerungen zu verlieren. Ich muss mich darauf konzentrieren, dass ich am Montag meine Arbeit beginne, und dass ich Anna bin. “Krysia …” Ich halte kurz inne, bevor ich die Frage ausspreche, die mich seit der Abendgesellschaft beschäftigt. “Was ist Sachsenhausen?”
Sie stutzt einen Moment lang. “Warum fragst du das?”
“Ludwig sagte, der Kommandant habe Sachsenhausen mit aufgebaut.”
Krysia runzelt die Stirn, schließlich antwortet sie: “Sachsenhausen ist ein Gefängnis der Nazis, mein Schatz. Ein Arbeitslager in der Nähe von Berlin.”
“Für Juden?”, frage ich ängstlich.
Doch sie schüttelt den Kopf. “Nein, nein! Für politische Gefangene und Kriminelle.”
Ich würde gern Erleichterung verspüren, aber ihre so nachdrückliche Beteuerung verrät mir, dass sie nicht völlig ehrlich zu mir ist. Sie legt ihr Strickzeug weg und tätschelt meine Hand.
“Mach dir keine Sorgen. Richwalder mag dich. Er wird dich gut behandeln.”
“Na gut.” Wenn ich ehrlich sein soll, können mich ihre Worte eigentlich nicht beruhigen.
“Meine Güte!” Ihr Blick ist auf die Standuhr gerichtet, die fast halb elf anzeigt. “Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es ist. Du solltest zusehen, dass du genug Schlaf bekommst. Morgen müssen wir früh aufstehen, und du wirst deine Kräfte brauchen.”
Für den morgigen Tag und für alles, was danach folgt, füge ich im Geiste hinzu. Ich trinke einen Schluck von meinem noch immer zu heißen Tee und stehe auf. In der Türöffnung bleibe ich stehen. Krysia hat das Strickzeug wieder an sich genommen und strickt in einem gleichmäßig hohen Tempo Masche um Masche. “Gute Nacht”, sagt sie zu mir, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Ich frage sie gar nicht erst, ob sie auch zu Bett gehen wird, weil ich weiß, dass sie meist bis spät in die Nacht aufbleibt und nur wenig schläft. Auch darin erinnert sie mich an Jakub, der manchmal die ganze Nacht nicht ins Bett ging. Morgens fand ich ihn dann schlafend über einem Buch oder einem Artikel vor, an dem er gearbeitet hatte. Aber wenigstens schlief er dann bis spät in den Vormittag hinein. Bei Krysia weiß ich, dass sie in aller Frühe schon wieder aufstehen wird, um die Hausarbeit zu erledigen und um uns auf den Tag vorzubereiten. Ich mache mir Sorgen, es könnte für sie auf Dauer zu anstrengend sein, sich um Łukasz und mich zu kümmern. Und durch den Kirchgang am nächsten Morgen und die Stelle bei Richwalder, die ich am Montag antreten werde, hat sie nur noch mehr um die Ohren.
In dieser Nacht schlafe ich sehr unruhig und träume, wie ich mich in der Dunkelheit auf einer mir fremden Straße aufhalte. Aus der Ferne höre ich Stimmen und Gelächter. Ich reibe mir die Augen und versuche, die Quelle dieser Geräusche auszumachen. Nach gut fünfzehn Metern treffe ich auf eine Gruppe junger Leute, die alle eine Art Uniform tragen. Im Gehen machen sie Scherze und erzählen sich etwas. Eine Stimme, ein vertrauter Bariton, hebt sich von den anderen ab. “Jakub!”, rufe ich und beginne zu rennen. Ich versuche ihn einzuholen, doch auf dem glatten, nassen Weg rutschen meine Füße weg. Schnell stehe ich auf und laufe weiter, dann endlich habe ich die Gruppe eingeholt. “Jakub”, wiederhole ich keuchend, aber er hört mich nicht, sondern unterhält sich weiter mit einer Frau, die ich nicht kenne. Ich kann ihn nicht verstehen. Verzweifelt strecke ich meine Hände nach ihm aus und versuche ihn zu berühren, doch ich werde von der vorrückenden Menge aus dem Weg geschoben und falle abermals zu Boden. Als ich den Kopf hebe, sind sie alle weg,
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