Der Kommandant und das Mädchen
ihn im Ghetto diese Melodie summen. Als ich nun aufmerksam zuhöre, scheint das Cello meine Seele zu berühren. Ich spüre, wie sich in meiner Kehle ein Kloß bildet.
Der Kommandant sieht auf. “Sie mögen die Musik?” Er klingt so überrascht wie an jenem Abend bei Krysia, als ich Schiller im Original zitierte.
“Ja.” Meine Wangen beginnen zu glühen.
Er steht auf und ist nur wenige Zentimeter von mir entfernt. “Warten Sie, Anna.” Er legt seine Hand auf meinen Unterarm, woraufhin mir ein Schauer über den Rücken läuft. “Ich …” Er hält inne, mit der freien Hand rückt er seinen Kragen zurecht. “Würden Sie mich nächsten Freitag ins Konzert begleiten? Ich habe Karten.”
Verdutzt sehe ich ihn an. Der Kommandant hat mich soeben zu einem Rendezvous eingeladen. “D-das ist sehr nett von Ihnen”, bringe ich heraus und versuche Zeit zu schinden, um mir eine Antwort zu überlegen.
“Dann sagen Sie, dass Sie mitkommen”, drängt er behutsam. Unschlüssig stehe ich da. Ich kann doch nicht mit ihm ausgehen, ich bin eine verheiratete Frau. Aber Anna ist keine verheiratete Frau. Verzweifelt suche ich nach einer Ausrede, nach einem Grund, weshalb ich verhindert bin. “Wenn es Ihnen am Freitag nicht passt, dann können wir auch an einem anderen Abend gehen.”
Er ist mein Vorgesetzter, seine Einladung kann ich nicht ausschlagen. Ich muss schlucken. “Nein, Herr Kommandant. Freitag passt mir gut.”
“Dann sind wir uns also einig. Freitagabend. Ich hole Sie um sieben Uhr bei Ihrer Tante ab.” Ich nicke und verlasse in aller Eile das Büro, während mir sein Blick bis zur Tür folgt.
Es gelingt mir, auf der Heimfahrt ruhig zu bleiben, doch kaum habe ich das Gartentor erreicht, verliere ich die Fassung. Keuchend und mit hochrotem Kopf schleppe ich mich in den ersten Stock, wo Krysia auf dem zum Garten hin gelegenen Balkon sitzt. “Die Situation mit dem Kommandanten gerät außer Kontrolle!”, explodiere ich.
Sie legt ihr Buch beiseite. “Was ist denn los?”
Als mir einfällt, dass Łukasz bereits schläft, werde ich leiser. “Er hat mich zu einem Rendezvous eingeladen.”
Krysia zeigt auf einen Stuhl. “Setz dich zu mir und erzähl mir, was vorgefallen ist.” Wie üblich klingt sie nicht so, als würde es sie überraschen, was ich zu berichten habe.
Ich lasse mich auf den Stuhl sinken und beginne mit meiner Schilderung. “Und dann sagte er, dass er Karten für die Philharmonie hat.”
“Was höchst unwahrscheinlich ist, da er die ganze Woche außer Landes gewesen ist”, stellt Krysia fest.
“Eben! Und wenn die Karten über Berlin hergekommen wären, hätte ich sie gesehen.” Sie nickt, da sie die Bedeutung dessen versteht, was hier vorgeht.
“Georg Richwalder ist ein mächtiger Mann, zudem ein gut aussehender”, hält mir Krysia vor Augen. “Anna Lipowski sollte sich geschmeichelt fühlen.”
Ich denke über ihre Bemerkung nach. Natürlich hat sie recht. Wäre ich tatsächlich eine alleinstehende junge Polin, würde ich die Aufmerksamkeit des Kommandanten sicher genießen. “Aber ich bin verheiratet!”, kontere ich, während mir die Tränen kommen.
“Ich weiß.” Sie tätschelt meine Hand. “Du befindest dich in einer schwierigen Lage.”
“Und ich bin eine Jüdin!” Zum ersten Mal seit Monaten habe ich dieses Wort ausgesprochen, und ich muss feststellen, dass es sich fremdartig anfühlt, es über die Lippen zu bringen.
“Vielleicht kannst du so den Juden helfen”, sagt Krysia. Ich sehe sie verständnislos an. “Du musst versuchen, in größeren Zusammenhängen zu denken. Wenn du näher an den Kommandanten herankommst, könnte das für den Widerstand von Nutzen sein. Vielleicht kannst du noch viel mehr helfen, als du es bislang schon getan hast.”
Ich atme tief durch. “Aber Jakub …”
“Jakub würde es verstehen”, erwidert sie überzeugt. Ich weiß, sie hat recht. Er liebt mich, aber er selbst hat sich ganz der Bewegung verschrieben. Wenn mein Rendezvous mit einer Nazigröße dem Widerstand helfen könnte, würde er es mir nachsehen. Dennoch frage ich mich, ob ich bei vertauschten Rollen auch so verständnisvoll wäre.
“Ich weiß. Es ist nur so, dass …” Ich halte inne, da ich mich für meine egoistischen Gedanken schäme.
“Dir fehlt Jakub”, spricht sie aus, was ich nicht sagen will. An ihrem Tonfall erkenne ich, dass sie versteht, was in mir vorgeht. Krysia fehlt Marcin genauso, wie mir Jakub fehlt. Der Unterschied ist, dass ich Jakub
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