Der Kommandant und das Mädchen
schwindlig werden lässt.
“Ich werde für zehn Tage weg sein”, erklärt er und sieht mir in die Augen. Ich blinzele. “Anna, geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen etwas blass aus.”
“Ist eine solche Reise nicht zu gefährlich?”, frage ich und staune über mich selbst. Meine Worte klingen, als hätte eine andere Frau sie gesprochen.
“Es ist relativ ungefährlich”, erwidert er. “Es ändert aber ohnehin nichts daran, dass ich nach Berlin fahre. Ich muss an einer wichtigen Besprechung teilnehmen, und es würde mir nicht gut zu Gesicht stehen, wenn ich nur um meine eigene Sicherheit besorgt wäre.” Ich nicke, ohne den Blick von ihm zu nehmen. “Nun gut, ich glaube, für den Moment war das alles.”
Ich verstehe die Aufforderung, das Büro zu verlassen. Als ich aufstehe, merke ich, dass mein rechtes Bein eingeschlafen ist, und ich stolpere. Der Kommandant bekommt meinen Arm zu fassen und stützt mich. “Vorsicht”, höre ich ihn mit sanfter Stimme sprechen. Abermals begegnen sich unsere Blicke.
“Ich … es tut mir leid”, erwidere ich und ziehe die Schultern zurück. “Es ist nur …” Ich zögere, da ich nicht weiß, wie ich den Satz fortführen soll. Durch den Stoff meines Kleides hindurch fühlt sich seine Hand warm an.
“Sie haben in letzter Zeit sehr schwer gearbeitet”, sagt er. “Sie haben viele Stunden lang alles für den Besuch der Delegation vorbereitet.”
“Ja, das muss es wohl sein.” Ich bin dankbar für die Ausrede, die er mir liefert.
“Heute brauche ich Sie noch, aber wenn ich weg bin, sollten Sie einen Tag freinehmen.”
“Danke, Herr Kommandant.” Ich begebe mich rasch zur Tür, spüre jedoch seine Blicke in meinem Rücken. Als ich wieder an meinem Schreibtisch sitze, gehe ich die Papiere durch, die er mir mitgegeben hat. Seit Wochen nagt die eine Sache an mir, die Krysia schon auf der Abendgesellschaft aufgefallen ist: Kommandant Richwalder fühlt sich zu mir hingezogen. Aber nicht nur sein Verhalten macht mir Sorgen. Warum habe ich gefragt, ob die Reise gefährlich ist? Es ist Anna, die ihm Besorgnis vorgaukelt, sage ich mir, dennoch weiß ich, dass die Frage mir keineswegs nur aus Berechnung über die Lippen kam. Mein Traum in der letzten Nacht war schließlich auch keine Berechnung. Bestürzt sinke ich auf meinem Stuhl zurück. Es ist vielleicht ganz gut, wenn der Kommandant für ein paar Tage auf Reisen geht.
Der Rest des Tages geht schnell vorüber. Es wird fünf Uhr, der Kommandant hat sein Büro noch nicht verlassen. Nach einer weiteren Dreiviertelstunde überkommt mich ein Gefühl der Erschöpfung. Ich habe wirklich zu viel gearbeitet. Mir kommt es vor, als hätte ich Łukasz und Krysia seit einem Monat nicht mehr gesehen. Minuten später verlässt der Kommandant mit zwei Aktentaschen in der Hand sein Büro. Ich erhebe mich von meinem Platz.
Er stellt die Taschen ab. “Ich werde mich dann nun verabschieden, Anna.”
Erst jetzt wird mir wirklich bewusst, dass der Kommandant Kraków verlässt. “Gute Reise”, wünsche ich ihm, nachdem es mir gelungen ist, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.
“Danke. Zögern Sie nicht, mir ein Telegramm zu schicken, wenn es etwas Wichtiges gibt oder wenn Sie irgendetwas brauchen.” Dann macht er einen Schritt nach vorn, bis er nicht mal mehr einen halben Meter von mir entfernt ist, sodass ich mich frage, ob er mich umarmen will. Wir stehen da und sehen uns an, aber keiner spricht ein Wort. Was ist hier los? Was spielt sich zwischen uns ab? Es muss an all den Ereignissen der letzten Tage liegen, rede ich mir ein. Die Belastung durch den Besuch der Delegation. Die Tatsache, dass der Kommandant abreist. “Also …”, sagt er nach sekundenlanger Stille.
“Passen Sie gut auf sich auf”, erwidere ich und meine es tatsächlich ernst. Im selben Moment schäme ich mich schrecklich, dass ich einem Nazi nicht stattdessen den Tod wünsche.
Der Kommandant nickt und nimmt seine Aktentaschen auf, dann räuspert er sich lautstark. “Auf Wiedersehen, Anna.” Einen Moment lang bleibt er noch vor mir stehen, erst dann verlässt er das Büro.
11. KAPITEL
F ünf Tage nach der Abreise des Kommandanten stehe ich in seinem Büro und ordne die zahlreichen Dokumente und Briefe, die sich während seiner Abwesenheit angesammelt haben. In wenigen Tagen wird er zurückerwartet, auch wenn ich mich frage, ob das schlechte Wetter ihn vielleicht aufhalten wird. Aus den eingegangenen Telegrammen weiß ich, dass man im Westen noch
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