Der Kommandant und das Mädchen
spüre seinen warmen Atem auf meiner Wange. Sekundenlang bewegt sich keiner von uns. “Alles in Ordnung?”, fragt er besorgt.
“Ja, danke.” Ich halte mich am Vordersitz fest, um mich wieder gerade hinzusetzen. Meine Wangen glühen. “Wo waren wir stehen geblieben?”
“Ich sprach davon, dass es Zeit war, den Nachlass meiner Frau zu regeln. Zeit, nach vorn zu schauen.” Er räuspert sich. “Natürlich habe ich auch an den Besprechungen teilgenommen. Aus dienstlicher Sicht war die Reise ein voller Erfolg.”
“Es freut mich, das zu hören”, gebe ich zurück. Seinem Tonfall entnehme ich, dass er nicht weiter über seine Frau reden möchte.
Ich sehe wieder nach vorn, und einige Minuten lang schweigen wir beide. Als wir uns dem Stadtzentrum nähern, holt der Kommandant eine Taschenuhr hervor. “Wir sind etwas zu früh”, bemerkt er. “Das Konzert beginnt erst um acht Uhr. Wir könnten uns am Marktplatz noch in ein Café setzen oder einen Spaziergang durch die Planty unternehmen.”
Ich zögere. Würde das Konzert um halb acht anfangen, wie ich es erwartet habe, könnten wir uns ohne weitere Unterhaltung direkt zu unseren Plätzen begeben. “E-ein Spaziergang wäre angenehm”, erwidere ich. Mir macht der Gedanke Angst, diesem Mann an einem Tisch gegenübersitzen und ihm in die Augen sehen zu müssen. Bei einem Spaziergang lässt sich das vermeiden. Außerdem muss ich dann nichts trinken, was es mir leichter macht, mein Verhalten zu kontrollieren.
“Einverstanden.” Er beugt sich vor und sagt etwas zu Stanislaw, der daraufhin an der Planty hält. Der Kommandant steigt aus und kommt um den Wagen herum, um mir die Tür zu öffnen. Seine Hand an meinem Rücken fühlt sich groß und warm an, während er mich zum Bürgersteig führt. “Wo entlang?”, will er wissen.
Mit dem Kopf deute ich nach links. Eigentlich ist der nach rechts verlaufende Weg viel schöner, da er an den alten Universitätsgebäuden entlangführt. Aber dort will ich nicht spazieren gehen, da ich zum einen fürchte, jemandem zu begegnen, der mich kennt, und der Weg zum anderen mit zu vielen Erinnerungen an Jakub verbunden ist.
Während wir nebeneinander hergehen, atme ich tief durch. Die warme Abendluft ist schwer vom süßen Duft des Geißblatts. Ich sehe nach oben, wo die Kronen der Ahornbäume zu beiden Seiten des Weges ein dichtes Laubdach bilden. Vereinzelt dringt noch ein sanfter Sonnenstrahl zwischen den Ästen hindurch. Aus dem Augenwinkel beobachte ich den Kommandanten, der so wie ich nach oben schaut und dabei leise summt. So entspannt wie in diesem Moment habe ich ihn in all den Monaten nicht erlebt.
Er wendet sich zu mir. “Es ist wunderschön hier, nicht wahr?”
“Ja”, erwidere ich rasch. Ich schaue nach vorn und merke, wie ich einmal mehr erröte.
“Es fehlt mir sehr, mich in der freien Natur aufzuhalten”, redet er weiter und streckt seine Arme in die Luft. “Als Margot und ich frisch verheiratet waren, unternahmen wir ausgedehnte Reisen in die Berge. Wir wanderten tagelang und übernachteten sogar unter freiem Himmel. Aber das war, bevor …” Seine Stimme wird leiser, und ich drehe mich zu ihm um. Der entspannte Ausdruck ist der vertraut verschlossenen Miene gewichen. In mir regt sich der Wunsch, irgendetwas zu sagen, das ihn wieder glücklich dreinschauen lässt.
“Ich wandere auch gern”, erwidere ich.
“Tatsächlich?”, fragt er überrascht.
“O ja.” In Wahrheit habe ich während meiner Kindheit nur selten die Stadt verlassen. “Unsere Eltern fuhren mit uns im Urlaub zu den Seen, wo wir wundervolle Wanderungen unternahmen”, kommt mir meine Lüge mühelos über die Lippen.
“Vielleicht …”, setzt der Kommandant an, doch dann bemerkt er ein Paar mittleren Alters, das ein Stück vor uns auf einer Parkbank sitzt. Vor den beiden hat sich ein großer Hund auf den Weg gelegt. Ohne ein weiteres Wort eilt der Kommandant auf das Paar zu. Verwirrt folge ich ihm und sehe, wie der Mann schützend einen Arm um die Frau legt und ihr etwas zuflüstert. Ein entsetzter Ausdruck huscht über sein Gesicht. Beide müssen fast zu Tode erschrecken, wie dieser große Mann in Nazi-Uniform auf sie zugestürmt kommt.
“Was für ein schönes Tier!”, ruft der Kommandant, als er das Paar erreicht. Er kniet nieder und beginnt den Hund zu streicheln. “Als ich klein war, hatte ich einen Hund, der ganz ähnlich aussah”, erzählt er, ohne aufzublicken, so sehr ist er damit beschäftigt, das Tier zwischen den
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