Der Kommandant und das Mädchen
der Kommandant.
“Ja”, antworte ich ehrlich. Zwar bin ich mit Musik aufgewachsen, aber nie zuvor habe ich ein Konzert erlebt. Was mich vor allem fasziniert, ist die Komplexität der Stücke, die wir bislang zu hören bekamen.
“Es ist ein gutes Programm”, meint der Kommandant und trinkt sein Glas aus. “Allerdings fand ich den zweiten Satz etwas zu langsam.” Was er weiter sagt, bekomme ich nicht mit, weil ich auf eine junge Frau mit wundervoll langem, lockigem Haar aufmerksam werde. Sie sieht mich nachdenklich an, so als würde sie versuchen, sich an mich zu erinnern. Von Krysia und Jakubs Eltern abgesehen, kenne ich niemanden, der ein Konzert besucht. Aber die Frau sieht mich weiter an und scheint noch angestrengter zu grübeln. Dann auf einmal legt sie eine Hand an ihre Wange, und bei dieser Geste wird meine Erinnerung geweckt. Es ist Eliana Szef, eine wohlhabende, christliche Studentin, die ich noch von der Universität her kenne. Ich sehe, wie ihr Verstand arbeitet: Ist das tatsächlich Emma Gerschmann? Und wenn ja, was macht eine Jüdin in der Philharmonie? Ich weiß, ihrer Verwirrung wird bald die Erkenntnis folgen, dass ich wirklich diejenige bin, für die sie mich hält. Nur noch ein paar Sekunden, dann wird sie sich ganz sicher sein.
“Herr Kommandant, ich muss mich kurz frisch machen”, sage ich rasch, als sich Eliana bereits in unsere Richtung bewegt.
“Ich werde hier auf Sie warten.” Da ertönt die Glocke und ruft uns zurück zu unseren Plätzen.
“Nein, gehen Sie schon rein.” Der Kommandant sieht mich verblüfft an. Vor Nervosität habe ich in einem überraschend scharfen Tonfall gesprochen. “Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen den ersten Satz verpassen.” Ich tätschele beschwichtigend seinen Arm. “In ein paar Minuten bin ich wieder bei Ihnen.”
Schon tauche ich in der Menge unter, wobei ich nur zwei oder drei Meter Vorsprung vor Eliana habe. So schnell es mir in dem langen Kleid möglich ist, haste ich die Marmortreppe hinab und stürme in den Toilettenraum. Vor dem Spiegel bleibe ich stehen und betrachte mich. Meine Gesichtszüge wirken reifer als damals, die Sommersonne hat mein Haar gebleicht, dennoch könnte Eliana mich wiedererkennen. Schnell verstecke ich mich in einer der Kabinen, als die Tür zu den Toiletten hinter mir aufgeht. Durch den Türspalt erspähe ich einen Lockenkopf. Eliana ist mir gefolgt, und jetzt wird sie warten, bis ich zum Vorschein komme.
Einige Minuten lang verharre ich in der Hoffnung, dass sie doch wieder geht, bis mir klar wird, dass ich keine andere Wahl habe, als ihr gegenüberzutreten. Wenn ich noch länger hier bleibe, wird sich der Kommandant fragen, wo ich bin. Ich atme tief durch, dann ziehe ich die Tür auf. Eliana dreht sich zu mir um und lächelt mich freundlich an. “Emma …” Als sie meine ausdruckslose Miene bemerkt, stutzt sie und hält inne. “Sind Sie nicht …? Oh, das tut mir leid”, sagt sie. “Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.” Ich nicke nur, da ich mich nicht durch meine Stimme verraten will, gehe mit erhobenem Haupt an ihr vorbei und verlasse den Raum.
Draußen eile ich die Treppe hinauf, muss aber vor der Logentür eine kurze Pause einlegen und mich beruhigen. Als ich mich auf meinen Platz neben den Kommandanten setze, versuche ich, mein verräterisches Zittern zu unterdrücken.
Eliana Szef. Ausgerechnet sie! Seit Monaten bin ich jedem aus meiner Vergangenheit erfolgreich aus dem Weg gegangen. Dort unten im Waschraum musste ich mich zwingen, sie nicht zur Rede zu stellen. Wusste sie, dass man mir die Stelle in der Bibliothek gekündigt hat? Dass ich im Ghetto gelebt habe? Interessierte es sie überhaupt? Plötzlich erfasst mich eine unbändige Wut auf Eliana und auf alle anderen ihrer Art. Auf alle Menschen, die ganz normal ihr Leben leben und sogar ins Konzert gehen, während die Juden, die jahrelang ihre Kollegen und Nachbarn gewesen sind, wie Tiere behandelt werden. Ich hasse diese Leute. Eliana. Vor Wut bohre ich die Fingernägel in meine Handflächen. Ich hätte ihr jede Locke einzeln vom Kopf reißen sollen.
Ich zwinge mich zur Ruhe. Atme tief durch, ermahne ich mich und umklammere die Armlehnen meines Stuhls. Plötzlich spüre ich etwas Warmes auf meiner rechten Hand. Mein Herz rast, und mein ganzer Körper versteift sich. Der Kommandant hat meine Unruhe bemerkt und seine Hand auf meine gelegt, von wo er sie für die nächsten Minuten nicht wieder wegnimmt. Beide sehen wir weiter zum
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