Der Kommissar und das Schweigen - Roman
nickte.
»Richtig«, sagte er. »Was wirklich geschieht und was zu geschehen scheint. Was meinst du, laufen wir gegen eine Wand?«
»Was meinst du?«, gab der Hauptkommissar die Frage zurück. »Die Mädchen sind in alle Winde zerstreut. Die Frauen schweigen. Jellinek ist verschwunden.«
Suijderbeck dachte nach.
»Katarina Schwartz«, sagte er.
»Nicht die geringste Spur«, konterte der Hauptkommissar. »Weder von ihr noch von ihren Eltern.«
Suijderbeck saß eine Weile schweigend da und nippte an seinem Bier.
»Okay«, sagte er schließlich. »Wir haben uns festgefahren. Was sollen wir machen?«
»Schwer zu sagen«, meinte der Hauptkommissar. »Aber nimm du erst mal deinen Aal, dann fange ich mit einem kleinen Krebs an.«
Doch als sie ihr Essen auf dem Tisch hatten, wusste er, dass alles vergeblich war. Alles hat seine Zeit, wie gesagt, und an diesen Tagen an seinen eigenen Hunger zu denken, erschien ihm fast unanständig. Er schielte verstohlen über den Tisch, wo Suijderbeck sich mit gutem Appetit seinem triefend fetten Fisch widmete.
Trotz aller marmorierten Mädchenkörper. Trotz aller infinitesimalen Gummifragmente. Trotz aller Kreissägen.
Pervers, dachte er. Eines Tages halte ich es hier auf der Welt einfach nicht mehr aus.
Es ist nur eine Frage der Zeit.
22
Er wartete eine leichte Abendbrise ab, bevor er sich auf den Weg machte. Die Sonne wollte gerade hinter dem Waldrand im Westen untergehen, und es gelang ihm, den ganzen Weg im Schatten und in relativer Kühle zurückzulegen.
Wolgershuus lag ein paar Kilometer außerhalb des Ortes, in angenehmer Abgeschiedenheit draußen im Wald, ein gutes Stück von der großen Straße entfernt. Ein lang gestreckter, von einer Mauer umgrenzter Park mit einem halben Dutzend verschiedener Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert, alle im gleichen sanften, blassgelben Kalksandsteinton. Van Veeteren hatte die Genealogie gelesen; anfangs Sanatorium und Kurheim für die wohlhabenden Gesellschaftsklassen, später – während des Krieges – Lehranstalt für Krankenschwestern und anderes freiwilliges Personal und noch später – seit den Fünfzigern bis heute – Therapiestätte und Verwahrungsort für Menschen mit verschiedenen psychischen und psychosomatischen Krankheitsbildern. Wenn er zwischen den Zeilen richtig gelesen hatte, war mit der Zeit der Gefängnischarakter immer ausgeprägter geworden.
Schon von weitem, als er gerade erst die Straße verlassen und seine Wanderung das schmale Asphaltband durch den Wald hinauf begonnen hatte, konnte er eine Stimme hören. Ein eintöniges Klagen, das aus dem Parkgelände kam. Eine einsame, anonyme Stimme, die offenbar durch ein offenes Fenster drang, über dem Wald im Sommerabend schwebte als Ausdruck dafür und Erinnerung daran, dass das Leiden seinen festen Platz in der Welt hat.
Der traurige Ruf eines Zugvogels kam ihm in den Sinn. Ein Zugvogel, der hier geblieben war. Der vergebliche Kontaktversuch eines sprachlosen Tiers in einer kalten und verständnislosen Umgebung. Im gleichen Moment, als er vor dem verschlossenen Tor stand, verstummte der Vogel. Schien aber weiterhin wie ein unerfülltes Schweigen unter den Bäumen zu hängen, und er wartete, bis es verklungen war.
Wolgershuus-Heim
Geschlossene psychiatrische Anstalt
stand auf einem blauweißen Emailleschild, direkt an der massiven Ziegelmauer festgeschraubt.
Gefährliche Idioten! dachte Van Veeteren. So hätte es früher geheißen, und so hieß es vielleicht immer noch im Volksmund.
Aber heutzutage gab es natürlich Medizin gegen die Gefahr.
Er trat an ein Glashäuschen im Portal und erklärte den Grund seines Kommens. Der junge, Kreuzworträtsel lösende Pförtner drückte auf einen Knopf und ließ ihn durch eine Gittertür hinein. Dann musste er sich an eine neue Wache in einem neuen Häuschen wenden, von der er die Wegbeschreibung bekam sowie eine kleine weiße Plastikkarte, die ihm freien Durchgang ermöglichte.
Die gleiche Karte, die man ihm das letzte Mal gegeben hatte – als er nur hier gewesen war, um Zeuge von Servinus’ und Suijderbecks vergeblichen Versuchen zu sein, aus den drei Nornen etwas herauszupressen.
Diesmal war er an der Reihe, und er hatte nicht die Absicht, mit leeren Händen zurückzukehren.
Er folgte weiter dem sorgfältig geharkten Kiesweg. Das Abendlicht würde noch eine gute Stunde anhalten, und hier und da konnte er kleine Menschengruppen erkennen. Weiß gekleidete Pfleger und Wächter, dunkelgrüne
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