Der Kommissar und das Schweigen - Roman
nicht.«
»Kannst du dich erinnern, ob du Jellinek irgendwo gesehen hast, nachdem ihr zurückgekommen seid?«
»Jellinek?«
»Ja. Ist es für dich einfacher, wenn ich jede Frage zweimal stelle?«
Das brachte ihm einen scharfen Blick von der Psychologin ein.
»Nein, das ist nicht nötig«, sagte Joanna Halle. »Nein, ich habe Jellinek erst gesehen, als wir zum Hof gegangen sind.«
»Du meinst damit, du bist am Sonntagabend mitgegangen, Milch zu holen?«
»Ja, natürlich. Ich war doch dran.«
Sie betrachtete ihn mit einem Blick, der leichte Verachtung ausdrücken sollte, wie ihm bewusst wurde.
»Wer war noch dabei?»
Sie dachte nach.
»Krys und die Schwestern.«
»Die Schwestern?«
»Ja, Lene und Tilde.«
Van Veeteren nickte.
»Wenn wir noch mal zurück zum Badefelsen gehen ... habt ihr andere Menschen gesehen, während ihr dort wart?«
»Nein, wir waren ganz allein da.«
»Auch keine anderen Erwachsenen?«
»Nein.«
»Und auch niemand, den ihr nicht kanntet?«
»Nein, ich habe doch gesagt, dass wir da ganz allein waren.«
»Wie lange wart ihr dort?«
»Ich weiß nicht ... nicht so lange.«
»Hattest du den Eindruck, dass Clarissa aus irgendeinem Grund vielleicht traurig war?«
»Nein ... nein, sie war wie immer.«
»Und es gab auch sonst nichts, was dir an ihr aufgefallen wäre?«
»Nein.«
»Sie hat nicht gesagt, sie möchte allein sein, oder so?«
»Nein.«
»Und es gab auch niemanden, der sie geärgert hatte oder etwas in der Art?«
»Wir ärgern einander nicht, das habe ich doch gesagt.«
Nein, nein, du kleine Gans, dachte der Kommissar, während kurz die Wut in ihm aufstieg. Aber schließlich ist es so, dass Clarissa ihren Mörder getroffen hat, während du nach Hause getrottet bist, und vermutlich hättest du genauso gut an ihrer Stelle sein können.
»Willst du jetzt aus dieser Kirche austreten?«, fragte er.
Joanna Halle wurde plötzlich ganz rot im Gesicht, und er konnte nicht ausmachen, ob sie nun wütend oder beschämt war. Das konnte sie offensichtlich selbst nicht, also fing sie stattdessen an zu weinen.
»Danke, das war alles«, erklärte er und eilte hinaus in den Sonnenschein, den Blick der Psychologin im Rücken.
Als er fünfundvierzig Minuten später auf die Tankstelle an der Ortseinfahrt von Sorbinowo fuhr, um zu tanken, begriff er, dass die vierte Staatsmacht die Polizeimacht mal wieder eingeholt hatte.
SEXPRIESTER AUF DER FLUCHT!
stand in fetten schwarzen Buchstaben auf den Titelseiten:
NEUE SPUR IM MÄDCHENMORD!
Er überlegte eine Weile, ob jemand geplaudert haben könnte, aber dann wurde ihm klar, dass die Information über die Mädchen gekommen sein musste, die Waldingen bereits verlassen hatten – und vielleicht auch Das Reine Leben. Ja, ja, dachte er. Zeit, sich den falschen Bart anzukleben und in den Wäldern zu verstecken.
Alles hat seine Zeit.
21
Während der Besprechung des Falls Clarissa Heerenmacht am Freitag war die Temperatur im Dienstzimmer von Polizeichef Kluuge bereits auf 33 Grad Celsius angestiegen. Obwohl es erst Vormittag war – außerdem war es das erste Mal, dass das gesamte Fahndungsteam unter einem Dach versammelt war.
»Wir sind vermutlich die einzigen Idioten im ganzen Ort, die drinnen sitzen«, sagte Suijderbeck.
»Ist gut möglich«, bestätigte Servinus.
Außer dem Paar aus Rembork waren die beiden weiblichen Inspektoren aus Haaldam anwesend – Elaine Lauremaa und Anja Tolltse –, der Leiter der Ermittlungen Kluuge sowie der beratende Hauptkommissar Van Veeteren von der Kriminalpolizei Maardam. Insgesamt also sechs Leute; der Teamleiter trug kurze Hosen, was aber nicht zu sehen war, da er hinter dem Schreibtisch saß.
»Da ist einiges los in den Medien«, stellte Suijderbeck fest und legte das Neuwe Blatt hin, das den Geschehnissen draußen in den Wäldern von Sorbinowo neben der Titelseite noch zwei weitere ganze Seiten widmete. Und dem Reinen Leben. Die Spekulationen um den verschwundenen geistigen Führer und die Ziele der Sekte im Großen und Ganzen waren in den meisten Medien reichlich aufgebauscht worden. Der alte Prozess war ausgegraben worden, abgesprungene Mitglieder schilderten unverblümt ihre Erfahrungen, und einer der Fernsehkanäle hatte seine selbst aufgestellten Anstandsregeln gebrochen,
indem er eine Reportage über eines der heimgekehrten Mädchen brachte – ein äußerst realistisches Interview der Revolverpresse mit stammelnden, verängstigten Eltern und einer verheulten
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