Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Interne – mit großen, weiten Jacken und unförmigen Hosen, die ihn an diese Tarnausrüstung erinnerten, die zu tragen er während seines Militärdienstes im Frühling seiner Jahre gezwungen gewesen war.
Unter den Grünen gab es auch vereinzelte Sonderlinge. Einen Mann, der auf einer Bank saß und rauchte, eine leere Hundeleine in der Hand. Ein anderer lag auf dem Rasen und schien zu schlafen. Unter einem Baum ein Stück weit entfernt stand eine Frau, die Stirn an den Stamm gelehnt, und wiegte sich hin und her, wobei sie mit den Armen langsame, schwebende Schwimmbewegungen ausführte.
Über allem – dem Park, den Gebäuden und dem umgebenden Wald – hing Stille.
Eine dumpfe, fast drückende Stille, die nicht nur die Illusion eines anderen Lands in sich zu tragen schien, sondern noch etwas anderes.
Eine Dimension mit einer gefährlichen Anziehungskraft, das wusste er; einen Sog, gegen den er sich in gewissen Situationen – wenn bestimmte rudimentäre Schutzmechanismen außer Kraft gesetzt waren – nur schwer zur Wehr setzen konnte.
Tief in seinem Unterbewusstsein gab es außerdem das dunkel leuchtende Bild seines eigenen Vaters. Und er erinnerte sich wieder an ein Gespräch zwischen diesem, sich selbst und dem Bruder des Vaters. Die Worte seines Vaters und dessen unverständliches Abstandnehmen. Entschlossene Schritte, die über den Kies hasteten, und ein schweres Tor, das zuschlug.
Seine eigenen kindlichen Beine, vier oder fünf Jahre alt, die zunächst nicht wussten, welche Richtung sie einschlagen sollten, dann aber um ihr Leben liefen, um nicht innerhalb der Mauern zurückbleiben zu müssen. Zusammen mit dem Onkel Bern.
Unbegreiflich damals. Unbegreiflich jetzt. Aber dennoch ein Stückchen des Musters, des Erklärungsrasters, dass er geerbt hatte. Sein privates Muttermal. Eines von vielen.
Er bog rechts vom Hauptgebäude ab, folgte dem ausgetretenen Pfad hinunter in die Mulde und erreichte das gleiche lang gestreckte Gebäude unter den Ulmen wie letztes Mal. Zeigte seine Plastikkarte einem bärtigen jungen Mann in einem neuen gläsernen Häuschen und wurde hereingelassen.
Polizeianwärter Matthorst saß im Aufenthaltsraum, rauchte und guckte Fernsehen. Es schien ihm fast peinlich, unter derart trivialen Umständen ertappt worden zu sein, und er sprang umgehend auf, um den Hauptkommissar zu einem der Zimmer in einem der Flure zu bringen, in dem Mathilde Ubrecht seit dreieinhalb Tagen verwahrt wurde. Er schloss auf, und Van Veeteren trat ein.
Sie saß zusammengekauert auf dem Bett und las in der Bibel. Im gleichen bleichen Baumwolltuch wie immer. Das gleiche strähnige, farblose Haar. Wie immer vollkommen in sich gekehrt. Der Hauptkommissar zögerte eine Weile, ging dann zum Schreibtischstuhl und ließ sich ihr gegenüber nieder, mit weniger als einem Meter Abstand.
Er wartete. Holte einen Zahnstocher aus der Brusttasche
und wog ihn in der Hand. Fand ihn zu leicht und schob ihn wieder zurück. Schaute durch das vergitterte Fenster. Ein dichter, ziemlich buschiger Fliederbusch verdeckte fast die ganze Aussicht. Er ging wieder dazu über, die Frau auf dem Bett zu betrachten.
Wartete. Lauschte der Stille und dem ganz leisen Geräusch irgendeiner Klimaanlage. Nach vielleicht fünf Minuten schlug sie die Bibel zu. Hob ihren Blick und erwiderte seinen.
»Ich würde einen Spaziergang im Park vorschlagen«, sagte Van Veeteren. »Es ist so ein schöner Abend.«
Sie antwortete nicht. Verharrte mit ihrem Blick bei ihm, während sie über die Bibel strich und mit halb offenem Mund atmete. Er überlegte, ob sie wohl an Asthma oder einer Art Allergie litt, es schien so. Nach einer Weile nickte sie knapp und stand auf. Matthorst, der offenbar vor der Tür gewartet hatte, folgte ihnen durch den Flur hinaus, und als sie am Fernsehzimmer vorbeikamen, gab ihm der Hauptkommissar mit einem Nicken zu verstehen, dass er weitergucken konnte.
Oder sich edleren Interessen widmen, falls er welche hatte.
Die letzten Sonnenreste waren verschwunden, als sie draußen waren, und die Gruppen grüner und weißer Menschen hatten sich zur Nachtruhe begeben. Van Veeteren ließ Mathilde Ubrecht den Weg wählen, und langsam bewegten sie sich auf den Teich in dem abgelegensten Teil des Parks zu. Nach Nordwest, wenn er sich nicht irrte. Die Abendbrise, das sanfte Flüstern, das im Wald zu hören gewesen war, als er zum Wolgershuus hinaufwanderte, hatte sich jetzt vollkommen gelegt; der einzige Laut, der noch zu hören war,
Weitere Kostenlose Bücher