Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Krantze weiß Gott eine ziemlich gute Alternative war, wenn man es recht betrachtete.
Schon komisch, dass es ihm gelungen war, das so auf Distanz zu halten. Zumindest hatte er dieses Gefühl, als er hinter dem Steuer saß in dem spärlichen Vormittagsverkehr. Servinus hatte ihn bereits um acht Uhr per Telefon über den neuen Fund informiert. Über die neue Mädchenleiche. Nachdem er seinen ersten Ekel niedergekämpft hatte, hatte er mehrmals im Laufe des Vormittags abwechselnd mit Kluuge, Lauremaa und Suijderbeck gesprochen, ihnen aber nichts von seinen Plänen verraten.
Er war nicht nach Waldingen hinausgefahren, um sich selbst ein Bild zu machen, und er hatte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen ... oder nur ein ganz klein wenig, wie gesagt.
Hatte er doch gespürt, wie die Müdigkeit in ihm wuchs, und es ging darum, ihr gewachsen zu sein ... dieser Wolkenbank, die sich über seine Seelenlandschaft legte und sie in tödliche Schatten versenkte, dachte er in einem weiteren Anfall von Fabulierfreude... der dunkle Himmel der Müdigkeit und der Trauer. Er hatte es ja gewusst. Hatte all die Tage doch nur auf den Fund gewartet, und jetzt war die Bestätigung da.
Deshalb war das mit der Distanz vielleicht auch nicht mehr als eine Mauer gegen die Hilflosigkeit, wenn er es genau besah. Er war vorbereitet und zur Verteidigung bereit. Schließlich war er ja kein Jüngling mehr. Hatte schon einiges mitgemacht.
Hatte schon einiges zu viel mitgemacht.
»Ich habe da ein paar Spuren«, hatte er erklärt. »Vermutlich nichts von Bedeutung, aber ich glaube, ich verfolge sie trotzdem. Ihr kommt schon allein zurecht. Schließlich haben wir doch nur darauf gewartet, oder?«
Kluuge hatte sich nicht getraut zu protestieren. Er hatte angedeutet, dass weitere Verstärkung auf dem Weg war und dass er hoffte, der Hauptkommissar würde bald zurück sein.
»Wir werden sehen«, hatte Van Veeteren geantwortet. »Wenn es nichts bringt, bin ich heute Abend schon wieder da.«
Was eine glatte Lüge war. Er hatte die Absicht, mindestens zwei Nächte in Stamberg zu verbringen, und nur aus Scham hatte er nicht endgültig sein Zimmer im Grimm’s aufgegeben.
Aber lieber ein paar doppelte Übernachtungen, die sicher einen Kommentar in der Abrechnungsstelle provozieren würden, als noch einmal einer neuen, geschundenen Mädchenleiche gegenüberzustehen.
Oder zu erklären, warum er diesen Gedanken nicht mehr ertragen konnte. So war es nun einmal. Aus, basta.
Er wunderte sich zwar ein wenig über sich selbst, als er diese Überlegungen anstellte und seinen Beschluss näher betrachtete – während gleichzeitig die Kilometer unter ihm dahinrollten und Boccherini aus den Lautsprechern scholl –, aber es war eine Verwunderung, die den Stempel resignierter Sättigung
trug. Genau diese. Nichts, über das er sich erregte, und nichts, an dem er etwas machen konnte.
Ich habe die Schnauze voll, dachte er. Ich will nicht dastehen und noch eine tote Dreizehnjährige angucken. Ich bin an einem bestimmten Punkt angekommen. Endlich. Entschieden. Und nun hat er mich eingeholt.
Der Entschluss ist gefasst.
Er hielt ungefähr auf halber Strecke an, nach gut achtzig Kilometern, an einer Raststätte in Höhe von Aarlach. Die Wolkendecke war während des ganzen Vormittags dichter geworden, ein ziemlich kräftiger Nordwestwind zog über das offene Land, und er nahm an, dass noch vor dem Abend Regen einsetzen würde. Trotzdem ließ er sich mit Kaffee, Mineralwasser und den ersten Ausgaben der Abendzeitungen draußen an einem Tisch nieder. Er bekam die Poost und die Neuwe Gazett.
Es stand nichts über den neuen Mord in Waldingen drin, noch nicht, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Schlagzeilen ihn verkündeten. Es war auch nicht schwer, sich die Formulierungen vorzustellen. Und die aufgeheizte Stimmung im Ermittlungsteam.
Oder den Hunger bei den Horden von Journalisten, die gerade zu dieser Stunde auf dem Weg in die Wälder um Sorbinowo waren, um ihre Zähne in neues, frisches Mädchenfleisch zu schlagen.
Falsch, korrigierte er sich. Frisch konnte man es nicht mehr nennen. Eher im Augenblick so ein paar Wochen alt.
Was die Sache kaum besser machte.
Er schüttelte sich vor Widerwillen und trank die Wasserflasche leer.
Dann zündete er sich eine Zigarette an und versuchte sich lieber auf das zu konzentrieren, was ihn wohl in Stamberg erwartete.
Genug mit den Fluchtgedanken.
Das Gespräch mit Kommissar Puttemans dauerte gut eine
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