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Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Titel: Der Kommissar und das Schweigen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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Stunde, und während der ganzen Zeit saß er da und betrachtete die Regentropfen, die langsam das leicht gewellte Fensterglas hinunterliefen. Er wusste selbst nicht, warum, aber da war etwas an diesen dünnen, unregelmäßigen Strömen, das ihm gefiel und das er nur ungern aus den Augen ließ. Er wartete auf den unvorhersehbaren Augenblick, wenn alle diese unzähligen Tropfen plötzlich genug hatten und beschlossen, stattdessen aufwärts zu fließen; ja, vermutlich war es etwas in der Art, was ihm vorschwebte. Etwas, das mit Revolte und Seelenverwandtschaft zu tun hatte.
    Oder dem ersten Anzeichen von Alzheimer, dachte er erschrocken.
    Als sie fertig waren, schüttelten sie sich die Hand. Puttemans ging zurück zu seiner Familie und der wartenden Sonntagsente (die Van Veeteren freundlich, aber entschieden abgelehnt hatte), während er selbst noch eine Weile im Polizeirevier blieb und einige Personen anrief, die der Kollege für ihn herausgesucht hatte.
    Er verabredete Treffen für den folgenden Tag, und als er nach dem letzten Gespräch den Hörer auflegte, konnte er feststellen, dass es immer noch regnete.
    Und dass die Tropfen ihre senkrecht fallende Richtung beibehielten.
    Er blieb noch weitere zwanzig Minuten so sitzen, während er seine Notizen des Gesprächs mit Puttemans durchging. Dann rauchte er eine Zigarette, und schließlich hörte auch der Regen auf. Er verließ das Polizeirevier. Lief eine Weile unschlüssig in der Innenstadt herum. Kehrte zweimal auf der Türschwelle einer Bar um, die ebenso armselig aussah wie sein Motiv, dort hineinzuschlüpfen, bis er kurz nach fünf Uhr ein Hotel fand, das ungefähr das Kaliber hatte, das ihm vorschwebte.
    Glossmann’s hieß es. Versteckt gelegen. Klein. Hatte sicher so seine fünfzig Jahre auf dem Buckel.
    Ein diskreter Speisesaal mit weißen Tischdecken und Fernseher in den Zimmern.

    Letzteres ein Zugeständnis an die Situation natürlich. Er nahm ein Zimmer und erklärte, dass er für zwei Nächte bleiben wollte. Vielleicht noch ein oder zwei weitere. Ließ sich in der Rezeption zwei Bier geben und gönnte sich ein langes, erquickendes Bad in Gesellschaft immer wiederkehrender Gedankenreihen mehr oder minder martialischer Natur.
     
    Kraft ihres Alters und ihrer Bedeutung besaß die Stadt Stamberg eine Anzahl von Kirchen aus den verschiedensten Jahrhunderten und Baustilen (unter anderem die so genannte Moriske Basilika im Zentrum der Altstadt mit einem Altar von Despré oder einem seiner Schüler), aber als Van Veeteren endlich das Heiligtum des Reinen Lebens gefunden hatte, musste er erkennen, dass es sich hier um eine andere Art Geistigkeit handelte.
    Eine ganz andere. Späte Sechziger-Jahre-Architektur offenbar  – soweit es zu der Zeit überhaupt Architekten gegeben hatte. Schmutzig grauer Beton mit Einschüben billiger, rotbrauner Ziegel. Unproportionierte Fenster in waagerechten, nach Gutdünken ausgeschnittenen Segmenten. Eine Turnhalle oder ein Gymnasium, das den Sommer über geschlossen war, das waren die ersten Assoziationen, die dem Hauptkommissar durch den Kopf schossen. Der Eindruck von Verlassenheit und Tristesse war überwältigend, die vernachlässigten Rabatten und der Löwenzahn in den Spalten zwischen den Gehwegplatten gaben deutliche Hinweise darauf, dass der Betrieb eingestellt war. Reichlich eingestellt. Dass es Sommer war und der Acker des Geistes brachlag.
    Gottverlassen! stellte er fest und trat eine Bierdose in die schüttere Spiräehecke. Abgelegen lag es auch noch. Weit draußen in einem Gebiet, das fast aussah wie ein Industriegelände, mit stummen, viereckigen Fabrikkomplexen und menschenleeren Straßen ohne Fußwege. Nicht gerade die Kirche im Dorf. Als er um das lang gestreckte Gebäude herumging, war ihm auch klar, dass es außerdem externe Kräfte gab, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Gläubigen fern zu halten.

    »Mordteufel«, stand da mit zittrigen, einen halben Meter hohen Buchstaben diagonal über die Eingangstür an der Stirnseite gesprüht. »Tod dem Schwein« konnte man ein wenig weiter unten lesen – was zusammen mit einer größeren Anzahl von »Fuck« und anderen allgemein bekannten Obszönitäten einen ziemlich beklemmenden Gesamteindruck abgab. Das meiste davon war offensichtlich neueren Datums, die jungen, anonymen Al-Fresco-Künstler waren ihrer Arbeit mit größter Wahrscheinlichkeit erst in den allerletzten Tagen nachgegangen.
    Oder Nächten, besser gesagt.
    Die Andere Welt, dachte er und machte

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