Der Kommissar und das Schweigen - Roman
sich von diesem Ort des Elends auf und davon.
Wenn es wirklich stimmte, dass diese Parallele zu den ersten Christen und ihrer Verfolgung eine Art Dogma in dem Katechismus des Reinen Lebens ausmachte, dann hatten sie zumindest in dieser Beziehung Wasser auf ihre Mühlen bekommen.
Was vermutlich, unter den vorherrschenden Bedingungen, kaum ein Trost war.
Nach einem ausgedehnten Essen in dem kaum bevölkerten Speisesaal war er gerade rechtzeitig zu den Zehn-Uhr-Nachrichten in sein Zimmer zurückgekehrt. Er schaltete den Fernseher ein und lehnte sich auf dem Bett zurück.
Die Sendung dauerte zwanzig Minuten, und mit unverhohlenem Ekelgefühl konnte er feststellen, dass fast die Hälfte der Zeit den Entwicklungen in der Sorbinowogegend gewidmet wurde.
Bilder von den Fundplätzen – sowohl dem neuen als auch dem alten. Bilder von den Lagergebäuden und von den beiden toten Mädchen – diesmal jedoch in lebendigem, fröhlich lachendem Zustand. Informationen über Alter, Wohnort und Interessen. Pädagogisch angelegte Karten mit deutlichen Kreuzen und Pfeilen. Umständliche Zusammenfassungen der Ermittlungsarbeiten bis zum heutigen Tag und dann die Interviews.
Zunächst Kluuge, der verschwitzt und angestrengt aussah
und kaum einen glaubwürdigen Eindruck machte, wie der Hauptkommissar leider feststellen musste. Dann Suijderbeck, dem es gelang, innerhalb einer halben Minute viermal zu fluchen, und dem es offensichtlich große Mühe bereitete, den gestriegelten Reporter nicht gleich zur Hölle zu wünschen.
Dann zum Schluss ein Ausschnitt aus der Pressekonferenz, und hier konnte man nach langer Zeit zum ersten Mal etwas Licht am Horizont erkennen.
Zumindest, wenn man es mit Van Veeterens Augen sah. Denn auf den beiden Plätzen ganz rechts auf dem Podium saßen niemand anders als Kommissar Reinhart und Assistent Jung – Verzeihung, Inspektor Jung, wie es ja jetzt richtig heißen musste. Und auch wenn keiner der beiden zum Lächeln aufgelegt schien (Reinhart sah eher so aus, als kaute er auf einer zerbrochenen Glasflasche), so entging es dem Hauptkommissar nicht, wie es ein paar Mal in den Wangenmuskeln zuckte. In seinen eigenen, den rechten.
Das ging zwar vorbei, sobald die Kollegen vom Bildschirm verschwunden waren, aber ihr unerwartetes Auftauchen auf der Bühne brachte unweigerlich ein leichtes Gefühl des Trostes und des vorsichtigen Optimismus mit sich. Zum ersten Mal seit langem.
Ob die wohl auch im Grimm’s abgestiegen sind, überlegte Van Veeteren. Vielleicht sollte ich mal anrufen?
Aber nach näherem Nachdenken ließ er es bleiben. Widmete sich stattdessen zwei Stunden lang allem Handschriftlichen über Das Reine Leben und seinen Anhängern, was er von Puttemans bekommen hatte, und als er fertig war, musste er sich eingestehen, dass dieses Treffen vermutlich nur hinausgeworfene Zeit gewesen war.
Wieder einmal.
27
Trotzdem rief er am nächsten Morgen an.
»Wir haben nichts mit den Ermittlungen zu tun«, erklärte Reinhart. »Wir sind gekommen, um einen alten Kriminalhauptkommissar zu finden, der verschwunden ist.«
»Ich bin ihm auf den Fersen«, sagte Van Veeteren. »Macht euch keine Sorgen.«
»Wie schön«, sagte Reinhart. »Wo zum Teufel treibst du dich herum?«
»Ich folge nur einigen ungewissen Spuren.«
»Das klingt wie ein Zitat.«
»Kann schon sein. Nun gut, ich werde jedenfalls morgen oder übermorgen zurück sein. Wie schaut es aus?«
»Einfach schrecklich«, sagte Reinhart. »Das musst du doch wissen. Wer ist der Täter? Etwa diese Witzfigur von Messias?«
»Gut möglich«, sagte Van Veeteren. »Ich weiß es nicht.«
»Wo versteckt er sich denn?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hier. Es gibt ungefähr fünfhundert Haushalte in Stamberg, die bereit wären, ihn zu verbergen. Die meisten sind zwar überprüft worden, aber man kann ja nie wissen.«
»Nein, das kann man nicht«, sagte Reinhart und ließ seinen Morgenhusten hören. »Ich habe einige Probleme, mir vorzustellen, wie du von Tür zu Tür läufst, aber das ist ja nicht mein Problem. Aber wenn er es nun nicht ist, wer ist es dann?«
»Dann ist es jemand anders«, sagte Van Veeteren.
»Das werde ich mir aufschreiben«, bemerkte Reinhart. »Und was würde der Herr Hauptkommissar mir empfehlen, wozu ich meine kleinen grauen Zellen an einem Tag wie heute verwenden sollte?«
Van Veeteren dachte einen Moment lang nach.
»Finde den Mörder«, sagte er dann entschlossen. »Ja, das würde deine Position um einiges
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