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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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er war zugleich salzig und herb, aber er
spülte den üblen Nachgeschmack der Suppe weg.
    »Ich vermute, die Bühne ist Ihnen ein Rätsel«,
sagte Kusk aus dem Schatten heraus. »Die Lösung ist
einfach. Heute abend wollen wir uns von einem Theaterstück
unterhalten lassen – von Thyestes, um genau zu sein, der
großartigsten Rachetragödie, die je ersonnen wurde. Ich
entnehme Ihrem fragenden Gesicht, daß Sie die Geschichte nicht
kennen.«
    Nach dem gerade genossenen Wein und dem Met davor wußte ich
nicht mehr so genau, was für ein Gesicht ich machte. Wenn Kusk
sagte, daß es fragend war, dann stimmte das wahrscheinlich
– obwohl ein verschmitztes Grinsen eher zu dieser unerwarteten
Bestätigung gepaßt hätte, daß die
Knochenjongleure in den Kulissen warteten.
    »Die Legende hat in verschiedenen Varianten
überlebt«, fuhr Kusk fort. »In manchen heißt es,
daß Thyestes mit Atreus’ Frau geschlafen hat. In anderen
wird behauptet, daß er Atreus’ Widder das goldene Vlies
abgezogen hat. Welchen Affront er auch begangen haben mag, die
Vergeltung war kreativ und erstaunlich – das Verbrechen wurde in
den Rang einer Kunst erhoben. Atreus machte der Rachsucht alle Ehre.
In einem ähnlichen Bankettsaal wie diesem setzte er Thyestes
dessen Lieblingskind vor!«
    Auf dieses Stichwort hin kam das Hauptgericht. Es war ein dicker
Fleischlappen, der ganz schwarz war, weil er zu lange in der Pfanne
gebraten hatte; er lag auf einem Bett aus Zwiebeln und Reis. Mir war
der Appetit vergangen, eine kumulative Wirkung des Mets, der Suppe,
des Weins und natürlich der Nähe von Kusks Untergang. Die
Zwiebeln begannen wie wäßrige Augen auszusehen, der Reis
wie Eiterpusteln.
    Irgendwie zwang ich mich zu essen. Als ich an den verkohlten
Stellen vorbei war, stellte sich heraus, daß das Fleisch
erheblich schmackhafter war als alles, was vorher auf den Tisch
gekommen war. Außerdem schmeckte der Reis ganz deutlich nach
Reis, und die Zwiebeln waren irgendwann einmal zweifellos Zwiebeln
gewesen.
    »Thyestes’ Alptraum hat ein ungewöhnliches
Ende«, sagte Kusk. »Als er erkennt, was er gegessen hat,
reagiert er eher mit Enttäuschung als mit Ekel. Ja, mit
Enttäuschung – Thyestes wünscht, er hätte sich
diese spezielle Marter als erster ausgedacht! Und was ist mit Atreus?
Verspürt er auch nur einen Hauch von Reue? Wunder über
Wunder, er ist ebenfalls enttäuscht! Als er über sein
Verbrechen nachdenkt, stellt er fest, daß es nicht das
Meisterstück gewesen ist, das er im Sinn gehabt hat. Der
richtige Höhepunkt wäre gewesen, wenn der Kopf des Kindes
auf einem Tablett hereingebracht worden wäre!«
    Ich konnte Kusks Lächeln nicht sehen, aber ich konnte sein
Lachen hören. »Natürlich ist man versucht, sowohl
Atreus als auch Thyestes als Psychopathen abzutun. Und vielleicht
waren sie das auch. Aber sie waren auch Prinzen –
gefürchtet, geliebt und respektiert. Wenn es eine Moral in dem
Mythos gibt, dann weiß ich nicht, welche. Vielleicht ist die
Moral, daß die meisten Erlebnisse keine Moral haben. An einem
guten Tag ist das Dasein sinnlos.«
    Ich musterte den nächsten Kandelaber. Die kleinen roten
Wachskugeln, die sich in den Tropfenpfannen sammelten, kamen mir wie
die Eier eines schrecklichen, giftigen Wurms vor.
    Als Prill zum viertenmal hereinkam, kamen all meine früheren
Befürchtungen mit ihm herein. Er brachte den Nachtisch, zwei
Portionen Plumpudding, die sich wie Gehirnhälften von der
Servierplatte hochwölbten. Dazu gab es jeweils einen
Löffel. Wenn Kusk seinen Pudding aß, würde er
natürlich keinen Appetit auf die Pastete, keinen Hunger nach
Feigen und Phrensamen und keine Lust auf Selbstvernichtung mehr
haben. Anscheinend war Torin so mit der Aufführung selbst
beschäftigt, daß er vergessen hatte, Kusks
Küchenpersonal mitzuteilen, daß die Knochenjongleure das
Dessert liefern würden. Vielleicht gab es etwas, das ich tun
oder sagen konnte, um den Baron daran zu hindern, seinen Löffel
in den Pudding zu stoßen.
    »Höchstwahrscheinlich glauben Sie, daß das
Stück gleich nach dem Dessert beginnen wird«, sagte er.
»Eine vernünftige Annahme – aber völlig falsch!
Denn wissen Sie, mein lieber Gast, das Stück ist bereits
aufgeführt worden!«
    Kusk sagte es nur einmal, aber ich hörte es immer wieder.
    Bereits aufgeführt.
    Bereits aufgeführt.
    Und dann, in meinem Innern: aufkeimendes Entsetzen, beginnende
Übelkeit.
    Und Kusk: »Kann menschliche Lymphe unbemerkt einer Suppe
beigemischt werden? Ich

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