Der Kontinent der Lügen
vor
meinem geistigen Auge, wie ich allein in Kusks Arbeitszimmer
aufgewacht war und sofort erkannt hatte, daß ich an diesem
Abend gar nicht im Bankettsaal gewesen war? Daß ich mich
tatsächlich gar nicht erst von Kusks Freudscher Couch erhoben
hatte? Und verriet mir mein Gedächtnis nicht mit gleicher
Lebhaftigkeit, was danach passiert war? Eine Abfolge von Bildern: Wie
der Zentaur ins Arbeitszimmer kam. Wie er mich in seinen
Güterwagen verfrachtete. Wie er mich zum weißen Zimmer
transportierte und mir ein Schlafmittel injizierte. Was das
trojanische Pferd selbst betraf – die List, mit deren Hilfe der
Alptraum in mein Hirn eingedrungen war –, so handelte es sich
dabei zweifellos um den Met. Bestimmt löste sich eine
Lotoskapsel in fermentiertem Honig genauso leicht auf wie in
Blut.
Ich brauchte Creegmoor keinem Synapscan zu unterziehen, um zu
erkennen, daß der Traum ihm vollständig den Verstand
geraubt hatte. Aus purem Mitgefühl erklärte ich dem armen
Kretin immer wieder, daß er seinen Vater nicht gegessen hatte,
aber er sagte nur: »Goth wird mich erlösen.«
An seiner Stelle hätte ich den Traum wahrscheinlich auch
geglaubt. Ich war jedoch bereits ein alter Hase, was die Frucht der
Hamadryade anging, und hatte gelernt, die Hyperrealität nicht
mit der Wahrheit zu verwechseln. Im Gegensatz zu meinem
Zimmergenossen hatte ich den körperlosen Kopf schließlich
als das gesehen, was er war – ein undifferenziertes, an den
Polen abgeflachtes, kugelförmiges Gebilde, auf das Kusk mich den
Menschen projizieren ließ, ›den ich am meisten
liebte‹. Kusk konnte die Illusion nicht aufrechterhalten –
nicht, wenn er es mit Quinjin dem Kritiker, dem
Traumentschlüssler zu tun hatte… mit Quinjin dem
Großen, dem Schlingbaumtöter.
Natürlich war es undenkbar, daß ich auch nur einen
einzigen ruhigen Moment erleben würde, ehe Lilit nicht
leibhaftig wieder vor mir stand. Dennoch konnte ich keinen Grund
finden, daran zu zweifeln, daß ich von neuem mit dem
Lotosfaktor gekämpft und ihn besiegt hatte.
Abgesehen von dieser Überzeugung waren meine Gedanken ein
einziges Durcheinander. Hatte ein Semesterabschlußbankett
stattgefunden? Hatten die Knochenjongleure ihr Stück gespielt?
Hatte Jonnie Kusk die vergiftete Pastete aufgetischt?
Direkt gegenüber vom Fußende meines Bettes war eine
jener zwei Meter durchmessenden Scheiben, die normalerweise
große Goldvorräte sichern, in die Wand eingelassen. Sie
öffnete sich zischend, und Kusk kam herein. Er machte sich nicht
die Mühe, die Scheibe hinter sich zu schließen.
Und ich dachte: So, Simon Kusk! Du glaubst also, dein
Thyestes-Apfel hat mich in einen Gothisten verwandelt! Nimm dich in
acht, du Giftschlange! Du treibst dein Spiel mit Quinjin dem
Großen!
Ich tat so, als würde ich schlafen.
»Du darfst das hier küssen«, sagte der Prinz der
Lügen.
Ich blinzelte durch halb geschlossene Lider und sah, wie er sich
über Creegmoors Bett beugte. Als er den Arm ausstreckte,
grapschte der Schüler nach dem Ärmel und zog ihn gierig an
seine Lippen. Er küßte ihn siebenmal.
»Ich bin schlecht, Goth, mein Herr«, stöhnte
Creegmoor. »Ich bin verworfen. Ich bin…«
Kusk zog den Ärmel wieder weg. »Bekenne dich zu mir, und
dir wird vergeben werden.«
»Mein Herr und Gebieter – in diesen vier Wänden
schläft einer, der deine Vergebung noch mehr braucht als ich.
Der Mann da drüben. Er sagt, meine Sünde sei ein
Phantasieprodukt. Das Resultat einer Lotoskapsel.«
Kusk fuhr herum. Seine Ärmel flatterten wie schwarze
Flügel. Sein Gesicht verfiel, als ob er vor kurzem an einer
Traumkapselorgie teilgenommen hätte. Seine Augen lagen tief in
den Höhlen; sie waren fahl und schwarzgerändert.
»Gothlästerer!« schrie er und kam auf mich zu.
»So, Quinjin, Sie wagen es also, sich über den Lotosfaktor
zu stellen!«
An dem Kopfbrett war ein roter Knopf angebracht. Kusk drückte
darauf, und eine große Metallplatte fuhr wie das Messer einer
Guillotine von der Decke herab. Der Raum wurde in zwei Hälften
geteilt. Creegmoor würde heute keine weiteren blasphemischen
Äußerungen mehr zu hören bekommen.
»Ich bin Flick Longslapper«, sagte ich.
Kusk widerlegte meine Behauptung, indem er die Nachttischschublade
aufzog, ein Buch herausnahm und es aufs Bett warf. Ich erkannte es
sofort – Oneiromanzen, die einzige Sammlung meiner
Apfelkritiken. Auf dem hinteren Umschlag war ein Hologramm des
Autors.
»Als Mr. Diffring in der Festung eintraf und mir
erzählte,
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