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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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erkundigte sich
die Schwester. »Haben Sie ein taubes Gefühl in den
Ohren?«
    Das war das Merkwürdige daran. Eine normale Kapsel hätte
meine Sinne bereits überbrückt, aber ich erlebte nichts
dergleichen. »Nein«, sagte ich. »Ich habe die Station
nicht verlassen.«
    Mein Herz piepste mir weiterhin in die Ohren.
    Selig schaltete seinen Vokalitapparat ein und begann die Sekunden
zu stoppen, indem er ein Pendel aus seinem Bart machte und ihn hin
und her tickern ließ.
    »Auch wenn es ein Blindgänger ist«, erklärte
ich ihm, »kriege ich trotzdem die zehntausend
Furn…«
    In dem Moment schoß mich die Lotoskapsel aus dem Labor, und
zwar schneller, als ich zwinkern konnte.
    Sie setzte mich auf einer Wiese ab.
    Ich hatte begonnen, mir mein Honorar zu verdienen.
    Das Gras unter meinen Füßen war unvorstellbar
grün. Wenn Grün die Farbe des Feuers gewesen wäre,
hätte ich geglaubt, daß der Rasen brannte. Ich ging
über die glühenden grünen Kohlen.
    Alles in dem Traum war auf die Intensität dieses Rasens
eingepegelt. Windfinger zerrten an meinen Haaren. Die schneidend
kalte Luft attackierte die Nerven in meinen Zähnen. Dunkle,
aufgewühlte Wolken zogen über einen grauen Himmel und
warfen schwarzfleckige Schatten aufs Grün des Rasens. Der Geruch
– eine durchdringende Mischung aus Ozon und kranker Vegetation
– war so stark, daß ich Angst hatte, mir würde die
Nase bluten; Galle stieg mir in den Mund. Ich hörte Musik, eine
sechstönige Melodie, die immer wieder auf einem unsichtbaren
Instrument gespielt wurde; in meiner Phantasie war es das Euter eines
weiblichen Drachen.
    Ein Reiter kam auf mich zu. Plump und unbeholfen ritt er auf einem
riesigen Ziegenbock, dessen Hinterteil wie eine Hängematte hin
und her schwang. Der Ziegenreiter trug einen schwarzen Umhang.
Über seinen Kopf wölbte sich eine schwarze Kapuze, die sein
Gesicht zu einem klaffenden Schlund machte.
    Der Ziegenreiter stieg ab.
    Stinkender Atem kam aus dem Dunkel, das sein Mund war. Er zeigte
auf sein Tier. »Ein Ziegenbock«, sagte er, als ob wir zwei
verschiedene Sprachen sprächen. »Wir haben hier auch einen
Brunnen. Und dazu noch eine Hecke.«
    Der Ziegenreiter sagte die Wahrheit. Nicht weit von der Stelle, wo
ich stand, war ein kreisrunder Ring aus Stein mit einem Durchmesser
von vier Metern. Seine Außenwand ragte bescheiden aus dem Gras
und erreichte eine Höhe von vielleicht zehn Zentimetern. Die
Innenwände fielen in schattige Finsternis ab. Zwanzig Meter
hinter dem Brunnen zog sich eine Hecke über den Horizont, ein
buntscheckiger Wall aus Blättern, Ästen, Blüten und
Dornen, der annähernd in der Mitte von einem
überwölbten Torbogen durchbrochen war.
    Eine Wiese, ein Ziegenbock, ein Reiter, ein Brunnen, eine Hecke.
Ich hatte mich für einen Horrortag in der Hölle gewappnet,
aber bis jetzt war der Traum nur sehr lebhaft. In einer Rezension
für Francie Lern hätte ich ihn als
›prätentiös‹ bezeichnet; vielleicht hätte
ich wie in meiner Kritik an Satanische Predigten geschrieben,
daß er ungefähr so aufregend sei wie verschüttete
Milch.
    Ein Schwall Sumpfgas verriet mir, daß der Ziegenreiter
wieder etwas sagen wollte.
    »Das ist natürlich alles ein Traum«, erklärte
er. »Wollen wir dem Traum einen Titel geben? Ach, was soll die
Bescheidenheit. Ich nenne ihn Der lauernde Lügner –
so heiße ich. Und wem lauere ich auf? Dir, geneigter
Schläfer. Komm mit mir zum Brunnen!«
    Der lauernde Lügner machte sich auf den Weg. Der Ziegenbock
und ich folgten ihm. Die organische Musik spielte weiter.
    Denken Sie daran – Sie waren nicht dort.
    Sie haben nicht in den schrecklichen vergrabenen Turm geschaut,
der der Brunnen war. Aber ich.
    Sie haben nicht gehört, wie der lauernde Lügner sagte:
»Sieh, wen du am meisten liebst!« Aber ich.
    Sie haben den riesigen Felsbrocken auf dem trockenen Grund des
Brunnens nicht gesehen, ebensowenig wie die bebende Gestalt, die auf
dem Felsen kauerte, und Sie haben auch nicht gesehen, daß die
Gestalt mit Ketten gefesselt war, die man in den Fels eingelassen und
durch eiserne Handschellen gefädelt hatte, und auch nicht,
daß die Enden der Ketten mit einem Vorhängeschloß
verbunden waren. Aber ich habe es gesehen.
    Sie waren nicht dort.
    Sie waren nicht dort, als eine rote, stinkende, organische
Flüssigkeit den Felsbrocken zu umspülen begann, als ob der
Brunnen von einer Zuleitung gespeist würde, die Blut
führte.
    Sie waren nicht dort, als die Sonne durch die Wolken stach und

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