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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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den
terranischen Griechen assoziieren. Zwei Statuen waren männlich,
zwei weiblich, und jede hatte einen Totenschädel anstelle eines
Kopfes. Sonnenlicht fiel herab, spülte über den Marmor und
verlieh ihm das schlaffe Weiß eines ertrunkenen Schweins.
    Der Ziegenbock riß eine Grassode aus und starrte stupide
geradeaus. Die Hörner richteten sich auf mich.
    Erschöpft und wie von Sinnen, tränenüberströmt
und von unaussprechlichen Qualen gepeinigt, sprang ich los. Der
Ziegenbock schlug aus, wobei er ungeschickterweise einen Hinterhuf in
meinem Griff deponierte. Meine andere Hand ließ den Dolch
fallen, packte ein Horn und zerrte daran. Zur Musik des Dracheneuters
rang ich den Ziegenbock ins Gras nieder und hob meine Waffe wieder
auf. Ein Vorderhuf schlug mir das Kinn auf. Mein Blut tropfte auf die
struppigen Haarwirbel, die wie eine Naht über den Bauch des
Ziegenbocks liefen.
    Der Dolch drang mühelos ein. Dampf stieg mir ins Gesicht, als
die Gedärme mit der kalten Luft in Berührung kamen. Ich
holte den Magen heraus und öffnete ihn.
    Blut, Säure, halb verdautes Gras, ein Gestank wie in einer
öffentlichen Toilette. Aber kein Schlüssel.
    Ich öffnete das Herz. Kein Schlüssel. Ich schnitt die
Lungen auf. Kein Schlüssel. Die Nieren. Kein Schlüssel. Den
Schädel. Kein Schlüssel. Methodisch und sorgfältig
durchsuchte mein Dolch all die stinkenden Innereien des
Ziegenbocks.
    Ich schrie meine Frustration heraus. »Kein Schlüssel!
Kein Schlüssel!«
    Ich wandelte die Frustration in Gewalt um und zerschmetterte die
Hörner des Ziegenbocks mit den Fäusten.
    Aus seinem linken Horn ergossen sich ein Dutzend Schlüssel,
die aneinanderklirrten und dann still im Gras liegenblieben.
    Ein Dutzend weitere Schlüssel ergossen sich aus dem rechten
Horn.
    Lilits Rettung war damit gesichert, nicht wahr? Nicht wahr?! Nicht
wahr?!? Aber dies war ein Alptraum. Der Ursprung aller
Alpträume. Der Alptraum, den eine Figur in einem Alptraum haben
mochte.
    Mein Martyrium bewegte sich rasend schnell auf seinen
Höhepunkt zu.
    Eine Transmutation.
    Die Schlüssel waren lebendig.
    Jeder war zu einem schwarzen Käfer geworden, dessen Panzer
höhnisch in der Sonne glitzerte.
    Es war ein Höhepunkt von urzeitlicher Bösartigkeit, aber
in meinem speziellen Fall verfehlte er seinen manifesten Zweck, mich
wahnsinnig zu machen. Ganz im Gegenteil: Der Höhepunkt war ein
solcher Schock, daß ich begann, Tatsachen von Hirngespinsten zu
trennen. Ich löste mich. Entzog mich. Gewann meine Distanz
zurück. Zum erstenmal seit dem Beginn des Alptraums war ich
nicht einfach nur Quinjin der Träumer; ich war Quinjin der
Kritiker, der Quinjin den Träumer beobachtete. Und dann mischte
sich der Kritiker mit einer prometheischen Anstrengung von Geist und
Willen ein.
    Schau, befahl ich mir selbst, die Schlüssel haben Fühler
und Beine bekommen! Paß auf, Träumer – dieser Scherz
soll dein Hirn aus den Angeln heben. Jetzt beachte, wie beunruhigend,
wie asynchron die Beine rudern, wenn die Käfer in vierundzwanzig
verschiedene Richtungen durchs Gras davonkrabbeln – laß
dich nicht zum Narren halten, Träumer! Und nun sieh dir an, wie
den kleinen Dämonen Flügel wachsen und sie mit ihrem Abflug
deine einzige Hoffnung zunichte machen, deine Tochter zu retten! Ein
reines trompe l’oeil, Träumer! Erinnere dich, wer du
bist! Quinjin der Kritiker! Dein Vater hatte recht, es gibt so
etwas wie die Wirklichkeit – und das hier ist sie nicht!
    Als ich neben dem toten Ziegenbock zu Boden sank, schlossen sich
die fliegenden Käfer zu einem kleinen, schwarzen, immer
höher steigenden Tornado zusammen. Während ich die letzten
Schlüssel wie eine Klage aus der Büchse der Pandora
davonfliegen sah, rang ich mit jeder Zelle meines Verstandes um meine
geistige Gesundheit, bekämpfte den Traum mit jeder Faser meiner
Seele, setzte dem Lotosfaktor jedes Gen meiner kritischen Instinkte
entgegen. Und das nächste, was ich wahrnahm, war, daß
ich…
     
    … das gedämpfte Geplapper von Wendcraft-Studenten
hörte. Sie redeten über irgendeine Sportart. Ein Wasserbett
gluckerte unter mir. Mein Herz machte piep-piep. Die Luft war wie in
einer Sauna. Ich schaute mich um, sah die unerbittlich langweilige
Umgebung – rechteckige Möbel, ovale Fenster, kitschige
Hologramme von Kindern an der Wand, alles so anders als die Welt, die
mich eben noch in Bann geschlagen hatte – und nahm an, daß
ich mich in einem Hinterzimmer der Krankenstube des Campus
befand.
    »Keine

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