Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
Stiefmutter zu
suchen.
    Ich schüttelte den Kopf – Urilla hatte Lilit in letzter
Zeit bis zur Verwesung verwöhnt; sie war mit ihr zu jeder
verdammten Horrorkapsel gegangen, die sie schlucken wollte, sogar zum Nekrophilie-Walzer – und warf einen Blick auf den
Bildschirm. Der Werbespot für das Irrenschiff lief immer noch. »Diese Attraktion ist von SUPEREGO offiziell verurteilt
worden und wird vielleicht bald im ganzen Terransektor
verboten!« Das Bild eines grell bemalten Raumschiffs, das
auf einem Rummelplatz landete, ging in die Nahaufnahme einer
Schizophrenen mit zusammengebissenen Zähnen über, einer
jungen Frau, die so aussah, als ob sie ihre Blase seit einer Woche
nicht mehr entleert hätte.
    Die zweifelhafte Prahlerei des Ansagers, das Irrenschiff
könnte verboten werden, erwies sich natürlich am Ende als
richtig. Das ist eine der wenigen Entscheidungen des Pangalaktischen
Gerichtshofs, die ich unterschreiben kann, denn das Ganze war von
vornherein ein verabscheuungswürdiges Spektakel, eher einer
Gesellschaft würdig, die sich gern ansah, wie Gladiatoren
einander in Stücke hackten, als einer Zivilisation, die die
Kunst des Traumwebens hervorgebracht hatte. Das Schiff war ein
fliegendes Irrenhaus. Man kaufte eine Eintrittskarte, ging an Bord
und glotzte. Jedes Ausstellungsstück bestand aus einem
verschwenderisch eingerichteten Zimmer, in dem mindestens ein
authentischer Irrer residierte, von seinen Besuchern durch eine
Glaswand getrennt, die Kommunikation, aber keinen Kontakt erlaubte,
so daß das Zimmer eigentlich kein Zimmer, sondern ein
dreidimensionaler Euphemismus für einen Käfig war. Hierbei
handelte es sich nicht um die übliche Kollektion von
Verrückten. Auf dem Irrenschiff gab es keine selbsternannten
Napoleons oder sabbernden Katatoniker. Seine Stars waren die
berühmten Irren, die romantischen Irren: Männer und Frauen,
deren Wahnsinn kein Schicksalsschlag, sondern Folge eigenen Wirkens
war. Eine typische Hauptattraktion war Welbie Lorcantor, der den
Verstand bei dem Versuch verloren hatte, einen autobiographischen
Roman zu schreiben, in dem nichts ausgelassen wurde, was der
Hauptfigur während ihres einundzwanzigsten Lebensjahres
widerfahren war, kein geistiger Höhenflug und keine
Darmentleerung. In den wenigen Fällen, bei denen die betreffende
Person nicht selbst für ihren Wahn verantwortlich gemacht werden
konnte, wußte man, daß er äußerst unterhaltsam
sein würde. Im Holovisions-Werbespot ging es zum Beispiel gerade
um Kennie Fruxmatter, dessen Hirnverletzungen ihn zwangen, Schwerter
und Feuer zu schlucken.
    Die Wunderbare Stiefmutter kam streitsüchtig ins Zimmer
gestürmt. »An Lilits Geburtstag gehen wir zum Irrenschiff.
Willst du mitkommen?«
    »Sie ist nicht deine Tochter.«
    »Du findest, daß ich ihr gegenüber zu nachgiebig
bin.«
    »Nein, ich finde es wundervoll, daß sie eine
große Schwester hat. Und am nächsten Abend kannst du sie
dann in Madame Blorskis Bordell mitnehmen. Noch besser – wie ich
höre, veranstalten unsere hiesigen Alptrinker einen
Leichenfresser-Wettkampf drüben im…«
    »Sie will hin«, gab Urilla zurück.
»Wär’s dir lieber, wenn sie sich wieder in den
Schmollwinkel zurückzieht?«
    In diesem Augenblick kam der Werbespot mit der Nachricht zu seinem
Höhepunkt, daß zum diesjährigen Aufgebot auch Marta
Rem gehörte, ein Opfer des ›berüchtigten
Vorka-Massakers‹, und auf einmal kam mir Urillas Vorschlag nicht
mehr so empörend vor. Ich mußte dringend mit dieser Frau
reden, so wie ein Kriegsveteran vielleicht mit seinen Kumpels vom
Militär reden muß, den anderen Überlebenden eines
Hinterhalts, bei dem Gedärme wie Papierschlangen herausgespritzt
waren und den die Welt ein paar Jahre später bereits wieder
vergessen hatte.
    So kam es, daß ich an einem sonnigen Nachmittag, den ich
ursprünglich dafür vorgesehen hatte, den dritten und
letzten Teil der Traumzensur-Serie aufzupolieren, in eine ganz
private Unterhaltung mit einer eingesperrten Irren vertieft war.
    Ganz privat ist das richtige Wort. Da Marta Rem ein nachdenklicher
Mensch war und sich klar ausdrücken konnte, statt
tiefgründige Weisheiten herauszukreischen, Galle zu spucken oder
Verkehr mit dem Teufel zu mimen, hatte sie keine anderen Besucher
angezogen. Lilit war weg, um einen irren Komödianten schmutzige
Witze erzählen zu hören – diese feste, aber
respektvolle Sondererlaubnis war mein Hauptgeschenk zu ihrem
dreizehnten Geburtstag –, während Urilla einen

Weitere Kostenlose Bücher