Der Kontinent der Lügen
Physiker
vorzog, der von der ständig wiederkehrenden Erkenntnis in den
Wahnsinn getrieben worden war, daß es keinen Zeitpunkt in der
Geschichte gab, an dem die Mehrheit der Menschen nicht an Unsinn
geglaubt hatte.
Ich hatte damit gerechnet, daß Martas Käfig wie der
Vorka-Psychosalon aufgemacht war, aber ihre Wärter waren
kreativer. Sie wohnte zwischen Büchern; Bücher stapelten
sich in Regalen, füllten Kisten und erhoben sich in wackligen
Türmen von Stühlen und Tischen und selbst auf dem Deckel
ihres Klosetts. Der erläuternde Text an der
gegenüberliegenden Wand enthüllte, daß sich Marta,
nachdem ihr in Vorka die meisten Tassen im Schrank abhanden gekommen
waren, in bibliographische Nachforschungen gestürzt hatte, um in
irgendeinem vergessenen Buch mit alten Weisheiten ein Heilmittel
für von Zephäpfeln verursachten Wahnsinn zu finden. Genau
das schien sie auch jetzt zu tun. Sie blätterte wortlos in
Freuds Traumdeutung, während ich ihr schweigend
zusah.
(Bei Gott ist kein Ding unmöglich…)
»Ich hatte mal einen Traum«, sagte ich.
Marta Rem fixierte mich mit dem eisigen Blick eines in der Falle
sitzenden Dachses, der sich gerade den Fuß abbeißt. Ich
konnte ihr wahres Alter auch nicht annähernd einschätzen,
so völlig war es von dem totenweißen Haar und der
runzligen Haut maskiert, dem Vermächtnis ihrer
Lotoskapseltortur. Mir fiel auf, daß ihr linkes Auge weiter
unten saß als ihr rechtes, als ob sich ihr Gesicht über
zwei versetzt geheftete Seiten eines Elektrozin-Printouts erstrecken
würde.
»Du hast doch keine Mikroben hier eingeschleppt, oder?«
fragte sie. Eine kalte, brüchige Stimme. Eine Stimme aus
Eis.
»Nein.«
»Sie werden immer größer, weißt du. Die
Mikroben. Letzte Woche hat sie eine von der Größe eines
Flohs gesehen. Die hat versucht, ihr die Pest anzuhängen. Heute
morgen sind sie so groß wie Hornissen geworden. Bald wird man
sie in Vogelkäfige stecken.« Sie klappte Freuds Meisterwerk
mit einem lauten Knall zu, als ob sie eine hornissengroße
Mikrobe darin erwischt hätte. »Erzähl mir von deinem
Traum.«
»Meine Tochter war im Begriff zu ertrinken. Ich mußte
durch einen Irrgarten laufen. Ich schlachtete einen Ziegenbock. Dann
kommt ein Teil, an den ich mich nicht erinnern kann. Etwas mit einer
Gottheit. Goth.«
»Die Geschichte deines Traums kennt sie nicht, aber den
Schmerz darin schon. Sie hat deinen Schmerz, Träumer. Sie hat
ihn in Vorka bekommen.«
Eine jähe Übelkeit begleitete meine Erkenntnis,
daß Marta von sich selbst sprach, wenn sie ›sie‹
sagte. »Ich bin Zephapfelkritiker von Beruf. Ich konnte mich
davon distanzieren. Sonst wäre ich auch hier drin.«
»Nein!« kreischte sie und drückte das Buch, als
wollte sie Dr. Freud erwürgen. »Eintritt verboten! Die
Mikroben!« Sie knallte Freud mit der gleichen Erbitterung auf
das Klosett, die Carl Gustav Jung gezeigt haben mochte. Ihre Augen
wurden so groß wie die eines Koboldmakis. »Hör zu,
Träumer«, winselte sie. »Sie sieht die Dinge, die
kommen werden.« Sie nahm das Buch wieder an sich und begann eine
Seite nach der anderen herauszureißen. »Marta weiß
nicht, warum du einen so schrecklichen Apfel gegessen hast«
– ratsch –, »oder woher er kam« – ratsch
–, »oder wer ihn gemacht hat« – ratsch –,
»oder wie er gemacht wurde« – ratsch –,
»oder was es bedeutet« – ratsch –, »aber sie
weiß folgendes: Ehe diese Reise vorbei ist, wirst du vor dem
Baum stehen, der den Traum ausgebrütet hat; du wirst gegen den
Baum kämpfen, und du wirst einen wunderbaren Schatz vom Nest des
Baumes mitbringen.«
Marta schloß ihre verschieden hoch sitzenden Augen. Sie
vibrierte wie ein angelassener Motor. Schweiß lief ihr aus den
weißen Haaren herab. Ihre Stimme nahm einen Klang an, den man
diesseits des Grabes für gewöhnlich nicht hört; sie
hallte in ihrem Innern, als ob sich alles unter ihrer Haut
aufgelöst hätte.
»Jetzt schaut Marta dir ins Gehirn«, sagte sie.
»Jetzt sieht Marta dort ein großes Werk
heranreifen.«
»Ein großes Werk? Du meinst – eine
Kapselkritik?«
Die Wahnsinnige spuckte sich in die Hände, breitete sie weit
aus und drückte sie an die Wände; sie war ein
aufgespießtes Insekt. »Und wenn der Moment der Reife
kommt, wirst du dem großen Werk Form geben. Kritische Analyse
mag dein Beruf sein, Träumer, aber Kunst ist dein
Schicksal.«
Und dann sank Marta Rem im Nu in Schlaf, wobei sie immer noch am
Glas klebte.
Während ich meine Familie
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