Der Kontinent der Lügen
auch
selbstbewußt, ein filigranes Gebilde aus Fleisch und Knochen.
Unter ihrem Arm klemmte ein Zeichenblock mit einem Pferd darauf. Wenn
ein anderes Mädchen dieses Pferd gezeichnet hätte,
würde ich – Quinjin, der Kritiker – gesagt haben,
daß es undeutlich in den Konturen und in den Details
überladen war. Aber das war ein Lilit-Pferd; es hätte wie
das Gekrakel eines Affen aussehen können, und ich hätte es
trotzdem gern an meiner Wand hängen gehabt. Da ich mit den
Jahren gelernt habe, daß die Leute nicht viel von Eltern
halten, die als Presseagenten für ihre Kinder tätig sind,
will ich nur noch hinzufügen, daß Lilit immer schon ein
ungewöhnlich sensibles und introvertiertes Kind gewesen ist. Als
sie drei war und all ihre Freundinnen imaginäre Freundinnen
hatten, ging sie noch einen Schritt darüber hinaus und kam zu
der Überzeugung, daß sie die imaginäre
Freundin einer einsamen Elfe namens Weidennase sei.
Lilits Kindheit war ein goldenes Zeitalter in meinem Leben.
Vorstellungen. Talas, das ist Urilla. Urilla, das ist Lilit.
Lilit, das bin ich, dein Vater – erinnerst du dich? Haha.
Für meinen kleinen Scherz erntete ich kein Kichern von Lilit,
wie ich erwartet hatte. Ich bekam ein mechanisches Lächeln und
einen gesenkten Blick zu sehen. O verdammt, dachte ich. Sie will
nicht hier sein.
»Ich mache eine Seereise«, verkündete Talas laut
und deutlich. »Du nimmst die Kleine. Okay?« Ihre Stimme war
immer ihr wirkungsvollster Aktivposten gewesen. Sie klang wie eine
teure Glocke, die Jonnie kaufen würde, ohne zu wissen, warum. Im
Gegensatz dazu war ihr Gesicht immer eine Spur zu unschön
gewesen, als daß sie viele Engagements als Naive bekommen
hätte. Jetzt trug ihr das beginnende mittlere Alter jedoch eine
Reihe von Politikerinnen-Rollen ein: Talas Pru als Jokaste, als Lady
Macbeth, als Guinevere. »Es ist eine Reise mit Begleitung, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja«, sagte ich. »Du meinst, daß du
angefangen hast, mit irgend so einem Produzenten rumzubumsen.«
Ich bereute diese Bemerkung, kaum daß sie heraus war. Nicht
gerade die richtige Sprache für eine Zwölfjährige.
Aber Lilit schien nicht schockiert zu sein, und weder Talas noch
Urilla schauten entsetzt drein.
Was für eine Mutter war Talas? Ein bißchen kalt,
würde ich sagen, ein bißchen distanziert. Die Liebe war
da, aber Lilit mußte sie suchen. Was Lilit von Talas bekam, war
eher die Verdinglichung von Liebe – ein großzügiger
und ungehemmter Bargeldstrom von der Mutter zur Tochter
beispielsweise – als Liebe selbst. Großartige Umarmungen
fanden nicht statt. Wenn Talas eine Traumkapsel wäre, hätte
ich sie mit zwei Sternen benotet. Ich hatte das Gefühl,
daß ich es an ihrer Stelle besser machen würde.
Urilla, die ein Unwetter aufziehen fühlte, näherte sich
meiner Tochter wie eine Schwester und fragte: »Möchtest du
mal unseren Roboter sehen?«
»Ein Roboter!« war alles, was Lilit darauf erwiderte,
aber in einem lauten, begeisterten Ton, der besagte: Geh voran, wer,
zum Teufel, du auch sein magst!
Als die beiden weg waren, begann Talas mit voller Lautstärke
zu läuten. »Mein Begleiter ist kein Produzent! Er
züchtet Rennpferde!«
»Auf einem Ozeandampfer?«
»Ist mir ganz gleich, ob ich mich vor dir blamiere, Mr. Ex.
Ich liebe diesen Mann, aber er liebt mich noch nicht, und ich kann Lilit einfach nicht auf so eine Reise mitnehmen. Wir fahren um
Nereus herum, um den ganzen klatschnassen Planeten, ernähren uns
von Wein und legen an den teuersten Inseln an. Ein ganzer Sommer
voller…«
»Du hörst dich an wie eine
Reisebroschüre.«
»Und du wie eine deiner gottverdammten
Klugscheißerkritiken.« Als sich Talas auf ihrem Liegestuhl
niederließ, setzte Basil zu einer freundschaftlichen Attacke
an, sprang ihr auf den Schoß und leckte ihr die Hände.
»Wie ich sehe, hast du immer noch deinen dreckigen
Kater.«
»Der Kater ist nicht dreckig. Von dem könntest du
essen.«
»Hör auf, Zeit zu schinden! Ich will deine Antwort
jetzt, und ich will, daß sie ja lautet. Sonst appelliere
ich als nächstes an deine Schuldgefühle. Danach komme ich
mit meinem Anwalt.«
»Versuch’s mal mit den Schuldgefühlen.«
»Du bist ihr Vater.«
»Eine Tatsache, die bei der Sorgerechtsverhandlung nicht
sonderlich viel Eindruck gemacht hat.« Würde ich deswegen ewig verbittert sein? »Sieh mal, Talas, du weißt,
wie gern ich sie hierhätte – zum Teufel, ich will es mehr,
als du ahnst –, aber Lilit wird’s
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