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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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völlig egal, was ich las. Indem er
meine Frage ignorierte, bestrafte er mich für meine
Direktheit.
    »Die Traumdeutung«, antwortete ich. »Von
Sigmund Freud.«
    »Das meiste davon ist falsch.«
    »Mein Kater ist getötet worden«, erklärte ich.
»Lilit dachte, es würde Sie freuen, wenn sie ihn
opferte.«
    »Das ist nicht der Fall.«
    »Lilit hat diesen Kater geliebt«, sagte ich.
    »Lilit liebt mich«, sagte Kusk.
     
    Ich hatte angenommen, daß unsere Fahrt nach oben wie zuvor
im zweiundvierzigsten Stock enden würde. Obwohl ich von der
Schlaflosigkeit der letzten Nacht wie betäubt war, packte mich
trotzdem die Angst, als der fünfzigste Stock blitzartig an uns
vorbeischoß. Erst als wir ein gutes Stück in den
Siebzigern waren, begann Prill zu bremsen. Im fünfundachtzigsten
Stock hielten wir endgültig an.
    Der Flur führte an Greifen aus Granit und Wandteppichen mit
den Folterszenen aus der Zitadelle der Schmerzen vorbei. Er
endete an einer weißen Plexiglasplatte. Als Prill und ich uns
der Platte näherten, glitt sie wie ein Fallgitter nach oben.
    »Gehen Sie da hinein«, befahl Prill, und als ich es tat,
war er verschwunden.
    Ich fand mich im hinteren Teil eines Raumes wieder, der die
Akustik eines guten Hörsaals mit der düsteren
Intimität eines Operationssaals verband. Der einzige Mensch auf
dem Podium war Kusk. Hinter ihm erhob sich eine Gipswand, die mit dem
Freskogemälde eines Schlingbaums geschmückt war. In den
Stamm war eine echte Tür eingesetzt worden. Die Entfernung
zwischen mir und dem Baron wurde von terrassenförmig angelegten,
mit Samt gepolsterten Sitzen überbrückt, von denen nur eine
Handvoll besetzt waren. Ich spekulierte, daß der Streuung der
Schüler eine psychologische Gesetzmäßigkeit
innewohnte, daß sie sich unbewußt in einem Muster
verteilt hatten, das eine maximale Isolation voneinander und damit
eine minimale Ablenkung von den Worten ihres Meisters garantierte.
Sie beugten sich mit angespannten Körpern erwartungsvoll zur
Bühne vor, und ich spürte, daß Kusks Schüler
trotz all seiner Macht, Gehirne zu waschen und Menschen den freien
Willen zu rauben, noch einen eigenen Kopf hatten.
    Auf der Bühne standen zwei aneinander angrenzende
Operationstische. Ein über drei Meter langer entwurzelter
Schlingbaumsämling lag quer über beiden Tischen.
Plastikschläuche steckten wie Akupunkturnadeln im Stamm und
führten ihm Saft sowie ein Betäubungsmittel von einer
kleinen, summenden Maschine zu.
    Kusk nahm ein Laserskalpell zur Hand und zeigte damit auf die
Pfahlwurzel seines Patienten. »Manche von euch werden sich
fragen, wozu ein Traumweber so viel von staubtrockener Botanik wissen
muß. Aber denkt daran, wenn ihr Weber werdet, geht ihr in eine
seelische Verbindung mit einer anderen Spezies ein.« Der Baron
hielt seinen Vortrag mit der gezähmten Leidenschaft des
professionellen Lobredners. »Je mehr ihr über
Schlingbäume wißt, desto mehr Erfolg werdet ihr mit eurer
Kunst haben.«
    Er aktivierte das Skalpell und richtete den blauen, schneidenden
Strahl auf die Wurzel. Als er die Einschnitte vornahm, platzten
Xylemschichten auf. Nur eine kleine Menge Saft trat aus, begleitet
von Rauch, der von dem brennenden Gewebe aufstieg. Der Rauch sammelte
sich zu einer nierenförmigen Wolke; es wirkte, als ob die Seele
des Baumes entweichen würde. Endlich kam das Gehirn zum
Vorschein. Von dort, wo ich stand, sah es wie eine grüne,
mehrfach perforierte Wurst aus. Mir blieb nichts anderes übrig,
als Kusks Worten Glauben zu schenken, daß das Ding vier
verschiedene Lappen besaß. Er benannte die Lappen für sein
Publikum, zeigte ihre anatomischen Wechselbeziehungen auf und
beschrieb ihre Funktionen. Als Höhepunkt bohrte er in einen
Lappen hinein und schnitt ein bösartiges Geschwür
heraus.
    Applaus.
    »Wenn wir uns das nächstemal sehen«, sagte Kusk,
»dann nicht in diesem Hörsaal, sondern beim
Semesterabschlußbankett. Ich denke, ihr könnt alle daran
teilnehmen. Die Knochenjongleure werden etwas aufführen, und
glaubt mir, es gibt keine bessere Inspiration für einen
Jungweber. Bis dann – ich wünsche euch schöne
Träume.«
    Eine Glocke ertönte, und Kusk machte eine Geste, als wolle er
böse Geister verscheuchen.
    Die Schüler – fünf junge Männer und sechs
junge Frauen – standen auf und lenkten ihre Schritte in den
Mittelgang. Als sie an mir vorbeikamen, suchte ich in ihren
Gesichtern nach Anzeichen dafür, warum sie ihre Ausbildung bei
Simon Kusk machten, obwohl es

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