Der Kontinent der Lügen
Hunderte von normaleren Lehrern gab.
Aber abgesehen von den Möbiusbändern auf ihren Kitteln
schienen mir die Schüler eine Gruppe verschiedenartiger und
gesunder Individuen zu sein, nicht anders als jene, die ich an der
Wendcraft-Universität gesehen hatte, und ich kam zu dem
Schluß, daß Kusk mehr Wert auf ihre Studiengebühren
legte als auf ihr Potential, gute Gothisten zu werden.
Ich ging zwischen den Sitzreihen hindurch nach unten zum Podium
und schaute mir das bloßgelegte Gehirn an. Ich tat so, als ob
ich verstehen würde, was ich sah. Ein Schüler war
zurückgeblieben, ein engelhafter junger Mann mit großen
Augen und einem Schnurrbart, der nicht so recht wachsen wollte. Er
nähte die Wurzel gehorsam wieder zu.
»Ich nehme an, meine Vorlesung war für Sie terra
cognita, mein lieber Vorarbeiter?« sagte Kusk.
»Es kann nie schaden, sich noch einmal mit den grundlegenden
Dingen zu beschäftigen«, gab ich zurück.
Kusk machte die Tür im Stamm des gemalten Schlingbaums auf.
»Gut! Der Mann, den ich suche, darf nicht arrogant
sein.«
Bevor wir den Saal verließen, befahl Kusk dem Schüler,
dessen Name Creegmoor war, den Sämling ins Genesungszimmer zu
bringen.
Hinter dem gemalten Baum lag eine weiträumige
Phrensamenschule, die mich an jene in Wendcraft erinnerte. Ich folgte
dem Baron über Wege, die von Computerkonsolen und Vorratslagern
für Purin- und Pyramidinbasen gesäumt waren. An den
Kreuzungen befanden sich Reaktionskammern, deren Gummischläuche
über Petrischalen endeten, in die sie synthetisierte Gene fallen
ließen.
Zuerst dachte ich, daß alle Schalen leer seien, aber bald
darauf standen wir vor einem großen, robusten Samenkorn. Der
gläserne Uterus wiegte seinen Insassen in einen tiefen
botanischen Schlaf. Kusk zog sich einen Kunststoffhandschuh an und
hob den Samen hoch, wobei er Daumen und Zeigefinger wie eine Zange
benutzte.
»Ich glaube, das ist unser Durchbruch«, sagte er.
»Eine neue Ausgabe des lauernden
Lügners?«
»Im Lotos-Institut wiederholen wir uns nicht, Mr.
Longslapper. Der Konvertit, der sich diesen Traum zu Gemüte
führt, wird ein Wissen um Gut und Böse erwerben, das man
nur als enzyklopädisch bezeichnen kann. Sturmernte –
so lautet der Titel – verwandelt den Träumer in den
einzigen Menschen, der den Terransektor vor der thermonuklearen
Vernichtung bewahren kann. Die allerhöchste Verantwortung,
nicht? Aber die eigentliche Frage ist, schafft man es oder schafft
man es nicht? Keine Sorge – ich gehöre nicht zu denen, die
eine Pointe verraten.«
»Sie haben den Instinkt eines Kritikers.«
»Und Sie den eines Züchters. Habe ich recht? Wenn ich
Ihnen diesen Samen geben würde, wüßten Sie dann etwas
damit anzufangen?«
»Ich könnte dafür sorgen, daß er Früchte
trägt«, antwortete ich. Es klang, als ob ich glaubte, was
ich sagte.
»Natürlich, und darin liegt eine Ungerechtigkeit, nicht?
Die Aristokraten ernten den Ruhm, aber im Grunde sind es die in
vorderster Front stehenden Arbeiter wie Sie, die einen Baum am Leben
erhalten können. Das ist der Haken an der Sache – Atropos
ist tot. Ich möchte, daß Sie seinen Platz
einnehmen.«
»Tot?« (Gute Show, Quinjin. Deine Exfrau hätte es
nicht besser hingekriegt.)
»Gestern abend habe ich mich über Neinsteinwelle mit der
Polizei von Ganzir in Verbindung gesetzt, und sie gaben mir ein paar
äußerst unästhetische Bilder eines Leichnams durch,
der vor fast zwei Jahren in der Nähe des Festivalgeländes
gefunden wurde. Ich habe ihn für sie identifiziert.«
Kusk nannte mir gewisse Einzelheiten, die mir nicht neu waren.
»Ist der Mörder noch auf freiem Fuß?«
»Das weiß ich nicht, und es ist mir auch egal. Der
Punkt ist, daß ich die Printouts von Atropos durchgesehen habe.
Es stimmt, da steht sehr wenig über Sie drin, aber er hat in
drei Punkten seine Meinung geäußert. Erstens, Sie lieben
das Traumkapselmedium. Zweitens, obwohl Schlingbäume nicht Ihr
gärtnerisches Spezialgebiet sind, hegen Sie eine
ungewöhnliche Sympathie für diese Spezies. Und
zuguterletzt: Sie sind ehrlich. Kurz, ich habe einen der wenigen
Menschen vor mir, an die ich mich in dieser Krise wenden
kann.«
»Krise?«
»In einem Jahr wird meine Hamadryade volljährig. Aus dem
Kind wird eine Erwachsene. Sie wird jemanden an ihrer Seite brauchen,
der sie versteht, jemanden, der kluge Entscheidungen treffen kann. Es
wird nötig sein, Kämpfe gegen Räuber zu planen,
Düngepläne auszuarbeiten, Beschneidungen und
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