Der Kraehenturm
war.
Ihre neue Bekanntschaft erwies sich als herausragender Tänzer, der ebenso leichtfüßig über das Parkett schwebte wie sie. Ihr Gespräch drehte sich um belanglose Dinge, und die Vampirin bemühte sich, den Eindruck einer leicht naiven, jungen Frau zu erwecken. Sie hörte das empörte Tuscheln der alten Weiber, als sie zum dritten Mal miteinander tanzten. Sie verstießen gegen die Sitte, die gebot, regelmäßig den Partner zu wechseln. Carissima blickte den Damen herausfordernd entgegen. Heute war ihr Bruder nicht da, um sie zu bremsen. Heute konnte sie sich benehmen, wie es ihrer Rasse entsprach, und musste sich nicht an die dummen Regeln der Menschen halten.
»Ihr seid ein kleines Biest«, flüsterte ihr Partner ihr ins Ohr, als sie sich bei der nächsten Tour de Main umkreisten.
Carissima riss in gespielter Unschuld die Augen auf. »Was meint Ihr?«
»Ihr wisst, dass wir gegen die Anstandsregeln verstoßen, und genießt es sichtlich.«
Sie wurden für einige Zeit getrennt, während sie sich im Wechsel mit den anderen Tänzern durch die Reihe schwangen. Carissima behielt Avrax genau im Auge. So leicht ließ er sich wohl doch nicht täuschen.
»Keine Sorge, Madame. Ich genieße Eure Anwesenheit genug, um mich nicht an den strengen Blicken der Damen zu stören.« Er lächelte sie gewinnend an, während er sie im Kreis drehte. Danach wurden sie erneut getrennt, und der Tanz endete. Als sie Aufstellung für eine Courante nahmen, trat Graf Ziesling an sie heran und verbeugte sich leicht, wobei seine Perücke vom Kopf zu rutschen drohte.
»Graf Davol, darf ich Ihnen diese Schönheit für einen Tanz entführen?«
Carissima blickte Avrax überrascht an. Warum hatte er sie in Bezug auf seinen Namen angelogen?
»Zwar mit höchstem Bedauern, aber wie könnte ich dem Gastgeber dieses wunderbaren Abends einen Wunsch abschlagen.« Elegant küsste er Carissimas Hand. »Lauft mir nicht davon, meine Schöne«, hauchte er ihr ins Ohr, bevor er sich abwandte.
Graf von Ziesling grinste sie unverschämt an, während er umständlich Aufstellung bezog. »Lasst Euch von Davol nicht täuschen«, flüsterte er ihr bei der ersten Drehung ins Ohr, wobei sie Tröpfchen seines Speichels spüren konnte. »Ich kann Euch weit mehr bieten als dieser Jungspund.« Seine Hand fuhr wie unbeabsichtigt über ihren Busen.
Carissima verspürte den Wunsch, ihm die Adern aufzuschlitzen. Warum musste er nur der Gastgeber sein? Mit einem bösartigen Lächeln packte sie seinen Schwanz, als die Tanzschritte sie dicht zueinander führten, wobei sie darauf achtete, dass ihr Rock ihr Handeln verbarg.
»Ihr seid sehr forsch, meine Liebe«, wisperte er.
Sie spürte seine körperliche Reaktion zwischen ihren Fingern. Dann drückte sie zu, und sein erregter Atem wandelte sich in ein unterdrücktes, schmerzhaftes Keuchen.
»Berührt mich noch einmal, und ich reiße Euch Euer erbärmliches Stück Männlichkeit ab.« Sie blickte ihm tief in die Augen und gewährte ihm für einen kurzen Moment Einblick in ihre Seele.
Ziesling erblasste. Rasch ließ Carissima ihn los, bevor sie Aufmerksamkeit erregten. Während des Tanzes spürte sie, wie sein erster Schrecken sich in Zorn wandelte. Auf seiner Gästeliste würde sie nicht noch einmal auftauchen, dachte sie amüsiert. Sie liebte die Zeit der Aufklärung. Heutzutage wagte kein gebildeter Mann mehr, Hexe oder Vampir zu rufen. Zu groß war die Gefahr, als abergläubiger Verrückter eingestuft zu werden, und umso einfacher war es für die Kreaturen der Nacht, sich in der Welt der Menschen einzurichten.
Nach dem Tanz suchte Carissima nach Tinuvet Avrax. So leicht wollte sie ihre Beute nicht entkommen lassen. Zudem schmerzte ihr Magen vor Verlangen nach Blut, und es fiel ihr zunehmend schwer, der Versuchung zu widerstehen, dem erstbesten Menschen die Zähne in den Hals zu schlagen. Während sie durch den Ballsaal schritt, bewunderte sie den gewaltigen Kronleuchter, der über den Tanzenden in der Luft zu schweben schien und dessen unzählige fein geschliffene Bleikristalle wie kleine Sonnen funkelten. Von der Rückseite des Saales führte eine breite, offen stehende Tür auf die Terrasse hinaus. Dort fand sie Avrax, wie er entspannt an der marmornen Brüstung lehnte und sich im Takt der Musik wiegte.
»Graf Davol?«
Er drehte sich lächelnd um. »Ertappt. Ihr fragt Euch vermutlich, warum ich mich unter anderem Namen vorgestellt habe?«
»Glaubt Ihr, dass ich mich so sehr für Euch interessiere?«
Weitere Kostenlose Bücher