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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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Carissima trat neben ihn an die Brüstung und legte ihre Hände auf den Stein. Sie spürte die Kälte durch ihre Handschuhe hindurch.
    »Immerhin habt Ihr mich gesucht.«
    Die Vampirin errötete. Das war von allem am schwersten zu lernen gewesen: zum passenden Zeitpunkt zu erröten. »Ich benötige frische Luft. Vom Tanzen ist mir ganz schwindelig. Wärt Ihr so galant, mich in den Park zu begleiten?«
    Avrax verbeugte sich voller Vorfreude. Sein schwarzes Haar schimmerte im Mondlicht, und seine rauchgrauen Augen raubten ihr den Atem. Elegant bot er ihr den Arm an. Wirklich zu schade, aber ihr Körper verlangte nach Blut.
    »Ihr müsst frieren«, bemerkte er mit einem Blick auf ihre nackten Schultern.
    »Die Kälte hält mich wach.« Sie musste in Zukunft vorsichtiger sein. »Nun erzählt mir, wieso Ihr mehr als einen Namen führt.« Unmerklich lenkte sie ihn auf einen Pavillon zu, der gut verborgen im Schutz einiger Eichen und Büsche stand.
    »Ich bin Künstler und verfasse anspruchsvolle Poesie für feine Geister, die sich an meinem Adelstitel stören könnten.«
    Der Eingang zum weiß gestrichenen Pavillon, den sie nun betraten, war von Weinranken umwachsen.
    »Tragt mir von Eurer Lyrik vor.«
    Avrax sprang auf eine kleine Bank und verbeugte sich ­theatralisch. »Euer Wunsch sei mir Befehl, Schöne.« Er überlegte einen Moment, dann begann er mit weicher Stimme, ein Gedicht zu rezitieren.
    »Wie unvergleichlich ist
Die Schöne, die recht küsst!
In ihren Küssen steckt
Was tausend Lust erweckt.
    Den Mund gab die Natur
Uns nicht zur Sprache nur:
Das, was ihn süßer macht,
Ist, dass er küsst und lacht.
    Ach, überzeuge dich
Davon, mein Kind! durch mich
Und nimm und gieb im Kuss
Der Freuden Überfluss.«
    Carissima musste ob seiner Frechheit lachen. »Und das entstammt aus Eurer Feder?«
    Avrax sprang von der Bank herunter und ergriff ihre Hand. »So muss ich Euch gestehen, dass ich mir die Worte eines anderen lieh. Friedrich von Hagedorn ist der Schöpfer dieses Werks, doch sprach er aus der Seele mir.« Vertraulich beugte er sich vor. »Möchte die Schöne meinen Vortrag mit einem vielbesungenen Kuss belohnen?«
    Die Vampirin spürte ihr eigenes Blut in den Adern rauschen. Gleich würde sie sich an dem unglückseligen Poeten laben können. Der Schlag seines Herzens würde erlöschen und ihr neue Kraft schenken. Verwirrt hielt sie für einen Moment inne. Sie konnte Avrax’ Herzschlag nicht hören, ebenso wenig roch sie sein Blut oder seinen Schweiß, nur der Duft seines Rasierwassers wehte zu ihr hinüber. Sie musste sehr geschwächt sein. Erwartungsvoll näherte sie ihre Lippen den seinen und schloss die Augen. Sie zitterte vor Verlangen, gleichermaßen nach seinem Blut und seinem Körper. Zu schade, dass sie heute nur eines von beidem haben konnte. Als sich ihre Münder trafen, lief ein Schauer der Lust ihren Rücken hinunter. Sie genoss das Spiel ihrer Zungen, hörte ihn leise stöhnen, oder war es sie selbst? Mit der Erregung wuchs ihr Verlangen nach seinem Lebenssaft. Sie löste sich von seinen Lippen, küsste sein Kinn, wanderte zu seinem Nacken hinunter. Endlich war es so weit! Sie spürte, wie ihre Zähne zu Fangzähnen heranwuchsen, wie sie sich verschoben, um über genug Platz in ihrem Gaumen zu verfügen. Sie lehnte den Kopf zurück, um einen günstigeren Winkel zu finden, dann schoss sie fauchend auf ihn hinunter; doch bevor sich ihre Zähne in sein Fleisch gruben, packte eine starke Hand sie am Kinn.
    »Nicht so hastig, meine Süße«, lachte Avrax. Seine Finger hielten sie eisern fest.
    Trotz ihrer übermenschlichen Kräfte gelang es Carissima nicht, sich loszureißen. Wer war er? Oder besser: Was war er? »Lasst mich los«, fauchte sie ihn an.
    »Kann ich mich darauf verlassen, dass Ihr mich nicht noch einmal beißt?«
    »Euer Blut würde ich nicht anrühren, selbst wenn es das letzte auf Erden wäre.« Carissima erboste es, dass dieser Geck offensichtlich Spaß an der Situation hatte. Als er sie losließ, widerstand sie der Versuchung, sich das schmerzende Kinn zu reiben. »Wer seid Ihr?«
    Er grinste frech. »Wenn Ihr das wissen wollt, kommt in zwei Nächten zum Heidelberger Schloss.« Bevor sie es verhindern konnte, hauchte er einen Kuss auf ihre Wange. Sie wich zurück. Er lachte erneut auf. Dann konnte sie sehen, wie er sich veränderte. Seine Haut wurde blasser und irgendwie glänzender. Seine Atmung erlahmte, seine Bewegungen verlangsamten sich. Schließlich stand er wie von Glas

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