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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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inne. Jemand verfolgte ihn. Der wolkenverhangene, in bedrohlichem Gelb leuchtende Himmel tauchte die Gasse in ein finsteres Zwielicht. Der Hexenjäger wandte sich um und sah eine Bewegung in den Schatten. Langsam ging er darauf zu. Nun verfluchte er das weite Gewand eines Diakons, das es ihm unmöglich machte, schnell an den Dolch zu kommen, den er an sein Bein geschnallt trug. Doch als er an die Stelle kam, wo er die Bewegung gesehen hatte, fand er nur einen Haufen Unrat vor, auf dem sich zwei magere Ratten um einen undefinierbaren Klumpen Dreck stritten. Hatte er sich geirrt? Silas glaubte nicht. Bisher hatten ihn seine Instinkte nie getäuscht. Immer wieder drehte er sich unvermittelt um, während er die letzten Schritte zur Kirche zurücklegte, doch das Gefühl beobachtet zu werden war verschwunden.

32
    Am Neckarufer
    G
    14. Novembris, Heidelberg
    I cherios schlenderte in der Dämmerung durch Heidelberg und beobachtete dabei die Händler, die ihre Waren allmählich aus den Auslagen räumten und die Geschäfte abschlossen. Kinder rannten kichernd an ihm vorbei, um rechtzeitig zum Abendessen zu Hause zu sein, und das Trappeln von Pferdehufen auf dem Lehmboden prallte von den kahlen Hauswänden ab. Er hatte es nicht mehr im Magistratum ausgehalten, zu viele Fragen schwirrten in seinem Kopf herum und zu groß war seine Unruhe bei dem Gedanken, in dieser Nacht den Nixen gegenüberzutreten. Er wollte Carissima besuchen, um sich für seine lange Abwesenheit zu entschuldigen. Er wusste, dass sie vor allem gekommen war, um Zerstreuung zu finden, deshalb hätte er sich mehr um sie kümmern müssen, anstatt sie nur aufzusuchen, wenn er Trost benötigte. Er bog gerade in die Straße ein, in der Carissimas Haus lag, als er eine ihm bekannte, schnarrende Stimme hörte. Schnell drückte er sich in einen überdachten Hauseingang. Die Kutsche des Doctore stand nur wenige Meter weit entfernt vor dem Anwesen der Vampirin. Aus ihrem Inneren erklangen gedämpfte Stimmen, die verstummten, als sich die Tür öffnete und ein gut aussehender, schwarzhaariger Mann ausstieg. Er verabschiedete sich mit einer eleganten Verbeugung, woraufhin die Pferde anzogen und die Kutsche an dem jungen Gelehrten vorbeifuhr. Er glaubte, obwohl er sich in die Schatten drückte, den Blick des Doctore auf sich zu spüren, und atmete erst auf, als sie in eine andere Straße abgebogen war. War es ein Zufall, dass er den Doctore hier traf? Warum hatte er nie Auberlin nach diesem Wesen gefragt. Der Leiter des Magistratum musste wissen, um was für ein Geschöpf es sich dabei handelte.
    Verdutzt beobachtete er, wie der schwarzhaarige Mann auf Carissimas Haus zuging und die Türglocke bediente. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Carissima ihm persönlich öffnete und ihn mit einem leidenschaftlichen Kuss begrüßte. Bei dem Anblick setzte Icherios’ Herzschlag einen Moment aus. Es überraschte ihn, wie sehr es ihn schmerzte, die Vampirin in den Armen eines anderen zu sehen. Sie ist nicht dein Eigentum, ermahnte er sich, doch es half nicht. Wut und Enttäuschung überdeckten langsam die Trauer, die er über Carissimas Verlust empfand. Fast wäre er zu Carissima gestürmt und hätte sie zur Rede gestellt, doch dann besann er sich eines Besseren und wankte zum Magistratum zurück. Was sollte er ihr auch sagen? Sie hatten sich nie ein Versprechen gegeben, und er hatte sich sogar mit einem Schankmädchen eingelassen. Trotzdem wünschte er, sie hätte ihn vorgewarnt. Du warst ja nie da, flüsterte die kleine, gemeine Stimme in seinem Kopf. Zurück im Magistratum wanderte er in seinem Arbeitsraum auf und ab. Er wollte sich mit Arbeit ablenken, fand aber keinen neuen Ansatzpunkt für seine Experimente. Schließlich beschloss er, eine Probe getrockneten Werwolfbluts, die er in einer der Vorratskammern entdeckt hatte, in Wasser zu lösen und mit ihr dieselben Versuche durchzuführen, die er zuvor mit Maleficiums, seinem eigenen und dem Blut der gewöhnlichen Ratten­ gemacht hatte. Vielleicht stieß er so auf einen Hinweis, und zumindest lenkte es ihn ab, bis es an der Zeit war, die Nixe ihren Artgenossen zurückzugeben.
    Diese Nacht war noch kälter als die vorherigen. Icherios atmete die kalte Luft ein. Der Dampf, der von Mantikors Körper aufstieg, ließ ihn wie ein Höllenross erscheinen. Der junge Gelehrte hatte lange warten müssen, bis Ruhe im Magis­tratum eingekehrt war und er es wagen konnte, die Leiche aus dem Stroh zu holen und in ein Leinentuch gehüllt

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