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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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Tisch und ging mit der Puppe nach draußen, während Nispeth sein Rechnungsbuch aufschlug. Das musste der Mörder seines Freundes sein.
    Plötzlich trat Marthes mit undeutbarer Miene aus dem Schatten eines Hauses auf ihn zu.
    »Planst du etwa wieder einen Besuch bei einem Freund?«
    Icherios starrte ihn verblüfft und zugleich entsetzt an. War er ihm etwa gefolgt? »Ja, bald, und nachdem du mir diesen Puppenmacher empfohlen hast, wollte ich mir seine Arbeit anschauen.«
    »Lüg mich nicht an.« Marthes sah ihn finster an. »Ständig verschwindest du, erfindest seltsame Ausreden. Ich will endlich die Wahrheit wissen.«
    Der junge Gelehrte blickte zu Boden. Konnte er Mar­thes davon erzählen? Würde er ihm überhaupt glauben? Und wenn ja, was würde das Wissen aus ihm machen? »Ich kann nicht«, seufzte Icherios.
    »Nun gut, dann hat es mich gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Lebt wohl.« Er wandte sich ab und ging die Straße hinunter.
    Icherios spürte etwas in sich zerbrechen. Er wollte nicht schon wieder einen Freund verlieren. Es verlangte ihn danach, sich jemandem anzuvertrauen, jemandem, der nicht in die seltsamen Vorgänge um ihn herum verstrickt war.
    »Warte«, rief er. Dann führte er Marthes zu einem Brunnen, auf dem sie in der fahlen Mittagssonne saßen, während einzelne Schneeflocken auf sie herunterrieselten, und erzählte ihm von Vallentins Tod und seiner Arbeit im Ordo Occulto. Nur das Schattenwesen, die Leichen und seine Verwandlung in einen halben Strigoi verschwieg er.
    Anfangs blickte Marthes ihn ungläubig an, wollte sogar mehrfach empört gehen, in dem Glauben, dass Icherios sich einen bösen Scherz mit ihm erlaubte. Schließlich wurde er ruhig und nachdenklich, bis er am Ende von dem Bericht furchtbar aufgeregt war und sofort zur Stadtwache rennen wollte. Mit Mühe und Not konnte der junge Gelehrte ihn davon abhalten.
    »Man würde uns kein Wort glauben, uns gar für verrückt halten, wenn wir von einem Puppenmonster erzählen.«
    Nach einiger Diskussion rang er Marthes das Versprechen ab, nichts zu unternehmen. Er versprach, sich selbst darum zu kümmern.
    Nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, kehrte Icherios ins Magistratum zurück. Der heutige Abend galt dem nächsten Schritt in seinen Untersuchungen: Er würde Maleficium töten.
    Er wartete, bis die Sonne untergegangen war. Franz war seit dem Morgengrauen unterwegs, um in Mannheim Bücher und alchemistische Gerätschaften in Auberlins Auftrag zu kaufen, und wurde nicht vor dem morgigen Tag zurückerwartet.
    Die Hände des jungen Gelehrten zitterten, als er Maleficium aus dem Käfig hob. Das Tier bemerkte seine Unruhe. Ein leises Quietschen drang aus seiner Schnauze, und Icherios spürte, wie der Herzschlag des Nagers sich beschleunigte.
    »Alles wird wieder gut, mein Kleiner.« Ihm traten die Tränen in die Augen. Übelkeit stieg in ihm auf, und er vergrub seine Finger in Maleficiums warmem, weichem Fell. Scham überkam ihn. Es war nur eine Ratte, aber sie hatte ihm all die Jahre treu zur Seite gestanden, sogar sein Leben in Dornfelde gerettet. Durfte er riskieren, sie zu töten? Icherios beschloss, zuerst mit einer kleinen Verletzung anzufangen. Heilte sie nicht schnell wieder, konnte er sich immer noch überlegen, das Experiment abzubrechen. Während er den Nager weiter kraulte, nahm er ein scharfes Messer und befreite eine ­schmale Stelle am Nacken vom Fell. Maleficium knabberte dabei ungerührt an einem Stück Trockenfisch. Anschließend entnahm er dem Tier eine kleine Blutprobe und beobachtete fasziniert, wie sich die Einstichstelle in Sekundenschnelle wieder schloss. Icherios’ Forscherdrang erwachte. Wäre Maleficiums Körper auch in der Lage, größere Verletzungen, gar den Tod zu heilen? Rasch füllte er die Blutprobe in ein Glasfläschchen ab, gab einige Tropfen Acetum Citrorum, Zitronensäure, hinzu und stellte es auf die Fensterbank. Die Kälte der Nacht würde es kühlen, bis er Verwendung dafür fand.
    Trotz seiner Neugierde überkamen den jungen Gelehrten erneut Schuldgefühle. War er besser als Vallentin oder Raban, wenn er Maleficium tötete wegen einer geringen Chance auf Heilung? Es ist nur eine Ratte!, versuchte er sich ein­zureden. Die Erinnerungen an die Andreasnacht kehrten zurück, an das Fleisch, das er noch immer zwischen seinen Zähnen fühlen konnte, das Blut und die Exkremente des Sterbenden an seiner Kleidung. Er musste es tun! Damit stellte sich ihm die nächste Frage: Wie sollte er seinen

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