Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
Vom Netzwerk:
Rezeptur gab, wäre Icherios nicht in der Lage, die Tinktur herzustellen. Dazu müsste er zahlreiche Menschen, Vampire und Werwölfe töten, nur um die be­nötigten Reagenzien zu erhalten. Da konnte er ebenso gut ein Strigoi bleiben, zumal Carissimas Bruder das niemals zulassen würde. Dennoch keimte in Icherios neue Hoffnung auf. Eventuell­ bestand die Möglichkeit, Unsterblichkeit auch auf andere­ Weise zu erlangen und nicht nur durch diesen Trank. Er musste nur das Geheimnis, das in Maleficiums Blut lag, lüften. Sobald er unsterblich wäre, wäre er nicht zum Tode verdammt, wenn er in der Andreasnacht niemanden tötete.
    Und es gab noch einen weiteren Ansatz: Das Blut dieser drei Arten unterschied und ergänzte sich zugleich. Wenn er herausfand, was genau die Andersartigkeit des Vampirbluts ausmachte, konnte er es eventuell extrahieren und sich vom Strigoi befreien. Er nahm einen Stift und begann eine Reihe Fragen niederzuschreiben, um sie später in einem Brief an Carissimas Bruder zusammenzufassen. Es war schwierig mit einer Hand zu schreiben, aber er wollte Maleficium nicht aus den Augen lassen. Er brauchte das Gefühl des warmen Pelzes unter seinen Fingern.
    Es würde lange dauern, bis er eine Antwort erhalten würde. Carissima wäre diesmal sicher nicht bereit, den Boten zu spielen. Der junge Gelehrte senkte den Kopf. Konnte er ihr wirklich einen Vorwurf daraus machen, sich mit einem anderen Mann eingelassen zu haben? Er hatte sich zu lange nicht mehr bei ihr gemeldet. Nicht dass Carissima sich nicht um sich selbst kümmern konnte, aber er wusste, dass Missachtung sie schmerzte, und sie hatte Besseres verdient nach all dem, was sie für ihn getan hatte. Sie würde nicht erfreut sein, wenn sie erfuhr, dass er auf dem Weg war, ein Heilmittel zu finden.
    Er konnte natürlich auch zu Raban gehen und sein Angebot annehmen. Der alte Vampir verfügte sicherlich über ein gewaltiges Wissen, mit dem er die Lücken füllen konnte, bis er die Antworten von Carissimas Bruder erhielt.
    Der junge Gelehrte wurde in seinen Überlegungen gestört, als ein leises Quietschen erklang. Maleficium öffnete die Augen und blickte sich orientierungslos um. Er stand auf und machte einen Buckel wie eine Katze. Icherios lachte mit Tränen in den Augen und hielt dem Nager ein Stück Schinken hin, woraufhin die Ratte ihn empört anfunkelte. Anscheinend mochte er keinen Schinken mehr. Icherios holte eine kleine, getrocknete Makrele aus einer Dose und bot sie dem misstrauischen Tier an. Nachdem Maleficium ausgiebig daran geschnuppert hatte, schnappte er sich die Leckerei, sprang von Icherios’ Schoß und verschwand in eine Ecke. Während er fraß, starrte er den jungen Gelehrten vorwurfsvoll an.
    Icherios’ Freude über die Unsterblichkeit seines Gefährten bekam durch dessen unübersehbaren Argwohn einen Dämpfer. Er hoffte, dass Maleficium ihm eines Tages verzeihen würde.
    Dann widmete er sich wieder seinen Notizen. Nachdem er auch die letzte Frage notiert hatte, überkam ihn eine tiefe Müdigkeit, doch als er sich hinlegte, fand er keinen Schlaf. Zu viele Bilder geisterten durch seinen Kopf, zu viele Sorgen plagten ihn, und er verspürte Scham über das, was er Maleficium angetan hatte. Ruhelos wälzte er sich hin und her. Er wollte vergessen, Ruhe finden. Das Laudanum könnte ihm dabei helfen. Nein!, gellte es in seinem Schädel, aber die Sucht gewann mit jeder wachen Minute mehr Macht über ihn. Schließlich gab er auf, nahm einen Schluck der grünen Tinktur und gab sich der seligen Leichtigkeit hin, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel.
    Das Mondlicht zeichnete ein Muster aus Schatten und Licht auf Icherios’ Bett, als er mit schmerzendem Kopf erwachte. Es dauerte einige Sekunden, bis er bemerkte, was ihn geweckt hatte: Ein Gewicht lastete auf seiner Brust. Hatte Maleficium sein Schmollen aufgegeben und war zu ihm zurückgekehrt? Er öffnete die Augen und blickte in die schwarzen Knopfaugen der hässlichsten Puppe, die er je gesehen hatte. Sie war etwa einen Fuß hoch, aus hellem Kirschholz geschnitzt und trug eine enge Hose und ein Hemd, durch das man die eckigen Umrisse des Körpers erkennen konnte. Vom kreisrunden Kopf sprossen schlauchförmige Haare. Das Gesicht bestand aus einem rot aufgemalten Kussmund, einer Nase und zwei schwarzen Knöpfen, die als Augen dienten. In der Hand hielt sie ein für den kleinen Körper viel zu großes Messer, das sie auf Icherios richtete.
    Kalter Schweiß brach dem Gelehrten aus. Für einen

Weitere Kostenlose Bücher