Der Kraehenturm
kleinen Freund töten? Mit Gift? Nein, dann könnte er die hoffentlich erfolgende Heilung nicht beobachten. Ihm den Kopf abschlagen? Zu gefährlich, Vampire, Ghoule, Strigoi – sie alle starben endgültig nach dem Abtrennen des Schädels. Erschlagen? Zu brutal, Icherios schüttelte sich bei dem Gedanken, das Knacken von Maleficiums Knochen zu hören. Ein Stich ins Herz? Schwer zu zielen, aber machbar. Mit zitternden Händen nahm er einen dünnen Holzstab und begann ihn anzuspitzen. Vampire wurden lediglich bewegungsunfähig, wenn man ihnen das Herz durchbohrte. Icherios fragte sich, wie viele Menschen bereits gestorben waren, weil sie glaubten, einen Vampir auf diese Weise töten zu können.
Nachdem der junge Gelehrte fertig war, setzte er Maleficium zurück in den Käfig und ging in die Küche, um ein Stück Schinken zu holen. Der Nager würde alles tun, um etwas von dieser Köstlichkeit zu bekommen. Heute würde er dafür sterben müssen. Icherios lachte bitter. Bevor er in sein Zimmer zurückkehrte, nahm er sich ein Glas Wein und stürzte es hinunter. Zum ersten Mal wünschte er sich, Geschmack an Schnaps und anderen, härteren alkoholischen Getränken zu haben.
Zurück im Arbeitsraum legte er Maleficium auf seinen Schoß, drehte die Ratte auf den Rücken und lenkte sie mit einem Stückchen Schinken ab, um ihr den Kopf nach hinten zu legen. Das Herz lag bei einer Ratte direkt unter der Kehle, wenn sie sich in dieser Position befand, und war nahezu unmöglich zu verfehlen. Dennoch benötigte Icherios mehrere Anläufe, bis er Nager, Schinken und Holzpflock koordiniert bekam. Endlich lag das Tier für einen Moment ruhig. Der junge Gelehrte spürte das rasche Pochen des Herzens unter seinen Fingern. Er zögerte. Wie konnte er das nur tun? »Die höchste Tugend ist die Freiheit von Emotionen«, flüsterte er. Jetzt war der Zeitpunkt zu beweisen, dass er ein wahrer Sucher nach der Wahrheit war. Er umklammerte das Stück Holz und trieb die Spitze durch Maleficiums festes Fleisch mitten ins Herz. Das Tier zuckte zusammen, quietschte einmal kurz auf, dann lag es still. Die Nase ruhte neben dem Stück Schinken, die Schnurrhaare zitterten noch immer. Nein! Er durfte nicht tot sein! Icherios zog den Pflock heraus und hob seinen kleinen Gefährten hoch, der kein Zeichen von Regeneration zeigte. Schuldgefühle überrollten ihn. Seine Sicht verschwamm vor Tränen, die ihm in Strömen über die Wange liefen. Zitternd presste er den Nager an seine Brust, ignorierte, dass er sein Hemd so mit Blut befleckte.
Immer wieder untersuchte er Maleficium in der Hoffnung, dass doch noch eine Heilung eintrat, aber die Ratte blieb leblos, und der Körper kühlte langsam ab.
Dann riss die Wolkendecke auf, und der Mond trat hervor. Icherios erinnerte sich an die wichtige Rolle, die die Mondphasen bei der Erstellung des Unsterblichkeitstranks gespielt hatten. Ein Hoffnungsschimmer keimte in ihm auf. Vielleicht brauchte der Nager das Mondlicht, um sich heilen zu können. Als Icherios das Fenster öffnete, fegte ein eisiger Windstoß durch den Raum, der Schneekristalle mit sich brachte. Behutsam legte er Maleficium neben die Blutproben, die er draußen lagerte. Er durfte seinen kleinen Freund nicht verlieren!
Veränderte sich die Wunde? Der junge Gelehrte blickte genauer hin. Tatsächlich! Hauchdünne Fasern wuchsen aus den Wundrändern hervor, verbanden sich miteinander und bildeten ein Netz, das sich rasch verdichtete. Ein Zucken ging durch den Leib des kleinen Tieres. Icherios nahm die Ratte sachte auf den Arm, sorgfältig darauf bedacht, dass das Mondlicht weiter auf die Wunde schien. Er wollte nicht riskieren, dass Maleficium nun auch noch hinunterstürzte. Plötzlich spürte der junge Gelehrte ein zögerliches Pochen, dann noch eins. Das Herz fing wieder an zu schlagen! Freudentränen stiegen in seine Augen, liefen seine Wangen hinab und zogen frostige Bahnen in seinem Nacken. Als Herzschlag und Atmung gleichmäßig erklangen und die Wunde sich geschlossen hatte, schloss Icherios das Fenster und begab sich in sein Wohnzimmer. Er wollte nicht, dass Maleficium sich in dem Raum befand, in dem er gestorben war, wenn er aufwachte.
Icherios bemerkte nicht einmal mehr, wie die Zeit verging, während seine Finger durch das erneut warme Fell des Nagers fuhren. Er wusste nun, dass der Trank, von dem Maleficium bei seinem letzten Auftrag aus Versehen gekostet hatte, Unsterblichkeit verlieh. Aber selbst wenn der Fürst von Sohon ihm die
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