Der Kraehenturm
zwang sich, ruhig zu bleiben. Auch wenn er sie verstand, schmerzte es ihn, sie mit einem anderen Mann zu wissen. »Dein Bruder hat mich vor dir gewarnt. Ich wusste, auf wen ich mich einlasse.«
Carissima trat näher an ihn heran und berührte seine Wange. »Du warst nie nur eine kleine Abwechslung, aber du bist ein Mensch. Das wird immer zwischen uns stehen.«
»Ich verstehe.« Der junge Gelehrte senkte den Kopf. »Liebst du ihn?«
»Ich weiß nicht, es ist anders als mit jedem zuvor«, flüsterte die Vampirin. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Ich möchte trotzdem deine Freundin bleiben und mein Angebot, dich zu verwandeln, bleibt bestehen.«
Icherios überraschte es, sie so verletzlich zu sehen. Ihm war sie immer stark und furchterregend erschienen. »Natürlich sind wir Freunde.« Er holte tief Luft. »Gib mir nur etwas Zeit, mich an all das zu gewöhnen.«
»Ich habe alle Zeit der Welt.« Carissima verwandelte sich in die selbstbewusste Vampirin zurück und schenkte ihm ein freches Lächeln. »Du weißt, wo du mich finden kannst.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, dann verschwand sie in dem schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern und kletterte wie eine Spinne die Wand empor, um dann auf dem Hausdach zu verschwinden.
Der junge Gelehrte ging nachdenklich zum Magistratum. Zum einen fühlte er sich, als ob er einen Verlust erlitten hätte, zum anderen spürte er Erleichterung, da es nun einfacher wäre, ihr Angebot, ihn in einen Vampir zu verwandeln, auszuschlagen.
Gismara wartete bereits vor dem bogenförmigen, vergitterten Eingang des Hexenturmes, als Icherios eintraf. Sie war schön und wirkte unnahbar wie immer. Ihr eng anliegendes, braunes Kleid betonte ihre schmale Figur, und auf dem Kopf trug sie einen kecken Hut mit langer Feder. Niemals hätte jemand vermutet, dass sie zu der Art Frauen gehörte, die hier einst eingesperrt und verbrannt worden waren. Icherios blickte zur Spitze des Turmes hinauf. Eine dieser seltsamen, schwarzen Krähen saß auf dessen Spitze und beobachtete die vorbeieilenden Menschen. Nein, korrigierte er sich mit einem Schaudern. Das Tier beobachtete ihn. Was waren das nur für Geschöpfe, die immer häufiger in der Stadt zu sehen waren?
Gismara tippte ungeduldig mit der Spitze ihres zierlichen Lederschuhs auf den Boden. »Wir müssen uns beeilen. Hazecha ist niemand, den man warten lässt.«
»Ich freue mich auch, Euch zu sehen«, murmelte Icherios, während er der Hexe folgte.
Sie führte ihn durch ein unüberschaubares Netzwerk kleiner Gassen und Straßen; vorbei an alten, verfallenen Gebäuden, Ställen mit Kühen und Pferden und Kindern, die über den eisigen Boden schlitterten und mit mühsam zusammengekratztem Neuschnee Figuren bauten.
Schließlich blieben sie vor einem hohen Fachwerkhaus stehen, dessen tiefschwarze Fensterläden das Licht verschlangen. Gismara deutete auf Icherios’ Schuhe.
»Zieht die aus, bevor Ihr das Haus betretet.«
Die Haustür war unverschlossen. Drinnen befand sich ein schmaler Gang mit einem Schuhregal, in das Gismara ihre Stiefel stellte. Der junge Gelehrte folgte ihrem Beispiel. Am Ende des Ganges hing ein schwerer Vorhang aus dunkelrotem Samt, den Gismara beiseiteschob. Sie drehte sich zu Icherios um.
»Geht die Treppe nach oben, und klopft an die erste Tür auf der linken Seite.«
»Ihr kommt nicht mit?« Trotz ihrer unnahbaren Art wünschte er sich, die Hexe würde ihn begleiten.
»Das ist eine Angelegenheit zwischen Euch und meiner Herrin.«
Icherios schluckte. Was für eine Frau mochte es sein, die Gismara als Herrin bezeichnete? Zögerlich stieg er die schmale Treppe hoch. Ein dunkelroter Läufer dämpfte seine Schritte. Das Innere des Hauses wurde nur von einigen wenigen Kerzen beleuchtet, sodass die schwarzen Holzbalken finster über ihm hingen. Icherios pochte sanft gegen die Tür und wartete. Nichts geschah. Er klopfte kräftiger. Wieder keine Reaktion. Schließlich drückte er den Türknauf langsam nach unten, schob die Tür langsam auf und spähte hinein. Der Raum lag im Halbdunkeln. Eine Vielzahl weicher Kissen und Teppiche in allen erdenklichen Farben lag auf dem groben Holzboden. An den Wänden hingen Tücher, Goldketten und goldene Kerzenhalter. Ein tannengrüner Vorhang bedeckte das einzige Fenster, neben dem ein breites Regal mit getrockneten Kräutern und Flaschen aus dunklem Glas stand. In der Mitte des Raumes saß die schönste Frau, die Icherios jemals gesehen hatte. Ihr karmesinrotes Haar
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