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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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sehen. Das erwies sich für mich allerdings als Fluch, konnte ich doch nun mein ausgezehrtes, blasses Gesicht im Spiegel erkennen. Die Unendlichkeit ist lang, wenn du deinem eigenen Ich nicht entkommen kannst.« Er schob sie sanft von sich und ging nackt, wie er war, zum Fenster. Carissima bewunderte seine muskulösen Schultern. »Bis heute verstehe ich nicht, warum meine Verwandten mir dies antaten. Ich sehnte mich mit jedem grausamen Atemzug, der nur noch verbrauchte Luft in meine Lungen pumpte, nach dem Tod, nach einem Ende der Einsamkeit. Und plötzlich geschah das auch. Nach einem Anfall von Verzweiflung, in dem ich meine Finger blutig gekratzt hatte, wurde mein Wunsch zu entkommen erhört, und ich stand mitten in Heidelberg. Ich weiß nicht, wie das passiert war, aber plötzlich war ich wieder in der Welt der Lebenden. Und sie hatte sich verändert, die grellen Lichter blendeten mich, aber trotzdem weinte ich vor Glück, die Sterne über mir wiedersehen zu können. Diese Freude war mir allerdings nur wenige Sekunden vergönnt, dann spürte ich einen Sog, und ich merkte, wie mein Körper erstarrte und zersplitterte, und plötzlich fand ich mich in meinem Sarg wieder.« Er holte tief Luft und presste seine Hand auf das Fensterglas. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie verzweifelt ich war, wieder in diesem Gefängnis zu sein. Aber mir blieb der Hoffnungsschimmer, dass ich es vielleicht noch einmal schaffen könnte, mich zu befreien. Ich hatte endlich wieder ein Ziel vor Augen. Ich nutzte all meine verbliebene Energie, um zu lernen, wie ich meine Fähigkeit kontrollieren konnte. Und tatsächlich, mir gelang es wieder herauszukommen, zwar wieder nur für eine kurze Zeit, aber mir gelang es danach wieder und wieder. Jedes Mal schaffte ich es, mich länger außerhalb meines Grabes aufzuhalten. Und mit der Zeit traf ich andere Kreaturen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten und war schon bald als Glasfürst unter ihnen bekannt. Niemals bin ich jedoch jemandem mit den gleichen Fähigkeiten begegnet.«
    »Glasfürst – das ist ein schöner Name«, murmelte Carissima.
    »Du, meine Blume, darfst mich nennen, wie es dir beliebt, solange du nur in meinem Bett liegst.« Er setzte sich neben sie und streichelte ihren Rücken. »Meine Reichweite ist allerdings begrenzt auf einige Meilen rund um die Stadt.«
    »Warum nimmst du deinen Sarg nicht einfach mit?«
    »Ich habe ihn nie gefunden.«
    Carissima kuschelte sich an ihn. Was für ein grausames Schicksal: der Leib gefangen, der Geist gezwungen, immer wieder zurückzukehren.
    »Du bist wahrhaft unsterblich«, flüsterte sie.
    »Das bitterste Geschenk, das man einem Geschöpf geben kann. Aber lass uns über etwas anderes sprechen, mir bleiben nur noch wenige Minuten.«
    Carissima gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Wir könnten die verbleibende Zeit auch ohne Worte verbringen.«
    Avrax grinste. »Unersättliches Biest«, und zog sie an sich.
    Nachdem er verschwunden war, räkelte sie sich genüsslich im Bett, bevor sie aufstand und sich anzog. Sie wählte ein burgunderfarbenes Kleid mit goldenen Stickereien und ließ sich von ihrer Zofe Rosina die Haare zu einer ­kunstvollen Frisur hochstecken, in die sie kleine Perlen einflocht. Raban legte viel Wert auf ein gepflegtes Aussehen bei einer Frau, und sie war dem alten Vampir sehr zugetan, sodass sie ihm bei ihrem anstehenden Besuch gerne diese Freude bereiten wollte. Sie vergewisserte sich, dass Rosina, ein ­pausbäckiges, einfältiges Mädchen, in die Küche gegangen war, bevor sie einen leisen Pfiff ausstieß. Rosina hatte zwar inzwischen sowieso schon viel zu viel gesehen, sodass sie sie vor ihrer Rückkehr nach Dornfelde würde töten müssen, aber die Worge wären wohl doch etwas zu viel für sie. Aus dem Nebenraum kamen die Tiere laut hechelnd hereingetrabt. Dann rieben sie ihre Köpfe an Carissimas Händen. Bei dem Anblick der Worge stieg die Sehnsucht nach den tiefen Wäldern des Schwarzwalds in ihr auf und nach der Freiheit, die ihr das offene Leben dort trotz der Abgeschiedenheit bot.
    Aber es war Zeit für ihren Besuch, und sie fuhr mit ihrer Kutsche zu Rabans Haus, um ihre Frisur und Kleidung nicht zu ruinieren, während die Wölfe ihr durch schmale Gassen folgten. Der steife Diener des alten Vampirs ließ sie ein und führte sie in den Salon, an dessen Wänden nichtssagende Landschaftsbilder in pompösen, goldenen Rahmen hingen. Raban trat durch eine niedrige Seitentür herein und begrüßte sie mit einem Kuss auf die

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