Der Kraehenturm
beschlich Unbehagen bei dem Gedanken, die zierliche Hexe alleine mit einem ruchlosen Mörder zu wissen.
Sie war eine Freundin seines Bruders; natürlich wollte er nicht, dass ihr etwas zustieß, versuchte er sich einzureden.
»Ich habe sie nicht, noch nicht. Zudem sollten wir vorsichtig vorgehen. Mir genügt es nicht, einen einfachen Handlanger auszuschalten. Ich will wissen, wer dahintersteckt.«
»Solange ein Stückchen von ihm übrig bleibt, erfahre ich alles von ihm.«
»Wirklich?«
Gismara wich seinem Blick aus. »Es gibt ein Ritual, das es ermöglicht, Bilder aus der Vergangenheit einer Person heraufzubeschwören. Dazu benötige ich aber einen Teil oder zumindest die Überreste dieses Menschen oder etwas, das er mir freiwillig überlassen hat.« Gismara holte eine Kette, an der ein kleines goldenes Kreuz hing, unter ihrem Kleid hervor. »Das war ein Geschenk von Zacharas. Sobald ich etwas von Ninges besitze, kann ich die Vergangenheit der beiden nach Überschneidungen untersuchen.«
»Damit könnten wir problemlos den Mörder finden!« Vor dem Hexenjäger taten sich unendliche Möglichkeiten auf, auch wenn es ihn erschreckte, welche Macht Gismara besaß. Kein Wunder, dass die Menschen die Hexen auslöschen wollten. »Falls er nicht verantwortlich ist, wiederholen wir es mit jedem weiteren Verdächtigen.«
Gismara schüttelte den Kopf. »Das Ritual erschöpft mich und ist äußerst gefährlich. Manchmal zieht der Tod die Hexe mit sich in die Finsternis.«
Schweigend setzte sich der Hexenjäger an den Tisch. Ihn behagte der Gedanke immer weniger, sie einer Bedrohung auszusetzen, doch vorerst sah er keine Alternative.
36
Aus Glas geboren
G
17. Novembris, Heidelberg
C arissima lag nackt unter ihrer weichen, flauschigen Bettdecke. Obwohl sie die Kälte nicht spürte, liebte sie das geborgene, kuschelige Gefühl. Sanft strich sie dem nackten Mann an ihrer Seite über die eiskalte Haut. Avrax. Ihm war letztlich doch gelungen, sie in sein Bett zu locken. Und sie musste gestehen, dass sie es bisher nicht bereute. Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die weichen Lippen. Sofort schlug er die Augen auf und lächelte sie an.
»Und was bist du nun?«
Die Wärme schwand aus seinem Gesicht, seine Miene verhärtete sich. »Ich bin hier, genügt das nicht?«
»Nun ja, ich würde einfach nur gerne wissen, mit was für einem Geschöpf ich das Bett teile. Ist das so schwer zu verstehen?«
Avrax verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und starrte schweigend an die Decke. Nach einer Weile kuschelte Carissima sich in seine Armbeuge. Irgendwann würde sie es herausfinden, doch jetzt wollte sie nicht weiterbohren, dazu genoss sie seine Gegenwart zu sehr.
Viel zu wenig Zeit war ihnen vergönnt gewesen, nachdem sie sich das erste Mal nach einer weiteren Begegnung auf einem Ball geliebt hatten. Danach schien ihn etwas jedes Mal förmlich zu zwingen, von ihr wegzugehen. Sein Körper löst sich auf, wenn er zu lange an ihrer Seite weilte. Nie sah sie ihn am Tage.
»Ich weiß es aber nicht«, flüsterte er. »Vielleicht bin ich ja auch ein Vampir? Mich gelüstet es nicht nach Blut, trotzdem ist meine Haut kalt und leblos.«
»Du musst doch deine Vergangenheit kennen.«
»Es ist eine lange Geschichte.«
Sie rutschte auf ihn, verschränkte ihre Hände unter dem Kinn, sodass sie ihm ins Gesicht blicken konnte.
»Ich habe Zeit.«
Avrax seufzte. »Irgendwann im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert wurde ich geboren. Als ich erwachsen war, wurde ich von einer Krankheit befallen, ich erinnere mich an Fieber, Schmerzen und Kälte.« Ein Zittern lief durch seinen Körper.
Carissima gab ihm einen sanften Kuss. »Es ist nur die Vergangenheit.«
»Ich starb an der Krankheit, aber ich erwachte wieder. Jedoch war ich in dem Moment, als ich meine Augen wieder aufschlug, umgeben von Dunkelheit, gefangen in einem Sarg, dessen Wände mit Spiegeln ausgekleidet waren.«
»Wurdest du vielleicht von einem Vampir gebissen?«
»Ich erinnere mich nicht daran.«
»Deine Familie muss davon ausgegangen sein. Verstorbene, von denen man glaubt, dass sie nach ihrem Tod wiederkehren könnten, legt man manchmal in verspiegelte Särge, in dem Glauben, Vampire könnten sich daraus nicht befreien.«
»Bei mir glückte es. Ich weiß nicht, wie lange ich gegen die Wände meines Gefängnisses hämmerte, um Hilfe schrie und winselte, doch niemand hörte mein Flehen. Nach und nach veränderten sich meine Augen, und ich konnte im Dunkeln
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